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Marc Jongen, ESN Fraktion

1. September 1939: „Fixiert auf Hitler“

1. September 1939: „Fixiert auf Hitler“

1. September 1939: „Fixiert auf Hitler“

Interviwe
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1. September 1939
 

„Fixiert auf Hitler“

In Deutschland bildet ein falsches Bewußtsein vom Zweiten Weltkrieg die Grundlage der politischen, psychischen und physischen Existenz – und stellt sie zunehmend in Frage. Denn aus kollektiver Verwirrung wird Kollektivwahn, der kein rationales Handeln erlaubt. Wenn des Kriegsausbruchs vor 70 Jahren gedacht wird, werden wir hören und sehen, in welchem Krankheitsstadium wir uns befinden.
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Cato, Palmer, Exklusiv

Interviwe
Dmitrij Chmelnizki Foto: JF

Herr Dr. Chmelnizki, Sie kritisieren die Fokussierung westlicher Intellektueller auf Hitler als Verursacher des Zweiten Weltkrieges. Müßte, dem Klischee entsprechend, Ihnen als linksliberalem, russisch-jüdischem Publizisten diese Deutung nicht sympathisch sein? 

Chmelnizki: Ich weiß nicht, was das mit meiner Herkunft zu tun haben soll. Für mich ist das erstens eine wissenschaftliche Frage und zweitens eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Mit Erstaunen habe ich, als ich 1987 aus der UdSSR in die Bundesrepublik gekommen bin, festgestellt, daß hier die Entstehung des Zweiten Weltkrieges nicht viel anders dargestellt wird, als es von der stalinistischen Propaganda für die sowjetischen Geschichtsbücher formuliert worden ist.

Ich stamme quasi aus einer Dissidenten-Familie, zwar waren wir keine Widerstandskämpfer, nach außen haben wir angepaßt gelebt, aber in unserer Familie haben wir die Ideologie der KP immer abgelehnt und alles gelesen, was wir an alternativer Literatur in die Finger bekommen konnten. Um so mehr hat es mich befremdet, daß so viele Historiker demokratischer Länder ganz offenbar die stalinistischen Propagandathesen übernommen haben. Ich finde das unerklärlich.

Vielleicht, weil diese Propaganda zufällig doch zutrifft?

Chmelnizki: Nein, es geht ja um Stalins Anteil an der Entstehung des Zweiten Weltkrieges, und dieser ist schon allein durch den Hitler-Stalin-Pakt evident. Die Historiker wissen das auch. Dennoch, wenn es um diese Frage geht, verfallen sie plötzlich in Schweigen.

Es ist, als gäbe es eine gesellschaftliche Vereinbarung, nach der ein anständiger liberaler Historiker darüber nicht spricht. Es ist fast etwas unheimlich. Der US-Historiker Richard Raack, ehemals Professor an der California State University und Fachmann für die Zeit Stalins, formulierte es mir gegenüber so: Wann immer er deutsche Historiker darauf anspreche, versteinerten die Gesichter und die Augen würden leer. 

„Hitler und Stalin haben Europa gemeinsam den Krieg erklärt“

Warum reagieren deutschen Historiker so? 

Chmelnizki: Gute Frage, ich denke manchmal, dieses Phänomen könnte selbst Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein. Als ich versucht habe, deutsche Historiker für mein Buchprojekt zu gewinnen, hat mir einer, Fachmann für sowjetische Geschichte, prophezeit: „Sie werden in Deutschland keinen Historiker finden, der auf öffentliche Fördermittel angewiesen ist und bereit ist, zu diesen Fragen zu publizieren.“

Waren Sie darüber überrascht?

Chmelnizki: Es hat mich vor allem geärgert. Denn was zeigt das? Es zeigt, daß das Thema hierzulande sozusagen von der Wissenschaft ausgenommen ist. Aber – und das sage ich gerade mit meiner Erfahrung als ehemaliger Sowjet-Bürger – wenn in der Wissenschaft politisch motivierte Thesen existieren, die man nicht mehr überprüfen darf, dann ist das keine Wissenschaft mehr. 

Was stimmt nach Ihrer Ansicht an der Darstellung der Entstehung des Krieges nicht?

Chmelnizki: Die völlige Fixierung auf Hitler und die völlige Ignorierung der Rolle Stalins. Als ob er überhaupt keine eigenen geopolitischen Pläne gehabt hatte. Denn tatsächlich ist der Zweite Weltkrieg eine Konsequenz des Paktes zweier Diktatoren. Entscheidend ist das Kalkül, das im Hitler-Stalin-Pakt zum Ausdruck kommt, daß quasi beide gemeinsam dem Frieden in Europa den Krieg erklärt haben.

Wieso gilt  heute allein der 1. September 1939, also der Angriff Deutschlands auf Polen, als Beginn des Zweiten Weltkriegs? Ebenso könnte man den 17. September wählen, also das Datum des sowjetischen Angriffs auf Polen. Sicher, der Erste liegt nun einmal zeitlich vor dem Siebzehnten, aber daß der 17. September fast ganz und gar hinter dem 1. September verschwunden ist, ist absurd, denn zum 1. September gehört immer auch der Siebzehnte, weil er Vorbedingung und Bestandteil der Ereignisse vom 1. September 1939 war.

Allerdings, im Grunde könnte man auch den 23. August 1939 wählen, da mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes an diesem Tag die Entscheidung zum Krieg getroffen war.

Polens Armee war mobilisiert, seine Strategen und Ideologen träumten traditionell von der Eroberung von Lebensraum in Westen, Süden und Osten. Welche Rolle spielte das?

Chmelnizki: Polen spielte als strategische Macht 1939 letztlich keine Rolle mehr, egal wovon polnische Nationalisten damals träumten. Im großen Spiel der beiden Diktatoren war Polen nur noch ein Objekt. 

Im Juni machte der russische Historiker Sergej Kowaljow mit einem Artikel Schlagzeilen, in dem er äußerte: „Wer die Geschichte des Weltkrieges unvoreingenommen erforscht hat, weiß, daß er wegen Polens Weigerung begann, die deutschen Forderungen zu erfüllen.“ 

Chmelnizki: Unsinn.

Wie kommt Kowaljow darauf?

Chmelnizki: Das müssen Sie ihn fragen.

Leider gibt er uns kein Interview.

Chmelnizki: Er wird wissen, warum. Tatsächlich war der Krieg längst geplante Sache beider Diktatoren. 

„Seit Putin wird wieder an die stalinistische Geschichtsfälschung anknüpft”

Immerhin hatte das russische Verteidigungsministerium Kowaljows Artikel prompt auf seine Netzseite gestellt. 

Chmelnizki: Und bald wieder gelöscht.

Nach der Intervention Warschaus.

Chmelnizki: Man muß wissen, was in Rußland vor sich geht. Seit Putin wird dort versucht, wieder eine „patriotische“ Geschichtsschreibung zu installieren. Im Klartext heißt das, daß man wieder an die stalinistische Geschichtsfälschung anknüpft, nach der Rußland unschuldiges Opfer und Befreier der von Hitler unterdrückten Länder war. Deshalb sucht man nach Schuldigen, auf die man die eigene Schuld schieben kann, das ist Polen, mitunter sogar Großbritannien, aber vor allem natürlich Hitler. 

Sie haben 2006 in Rußland eine sechsbändige Aufsatzsammlung herausgegeben, die diese Alleinschuld in Frage stellt. Im Kern geht es um die Thesen des ehemaligen KGB-Agenten und Sowjet-Diplomaten Wladimir Resun, alias Viktor Suworow, der in den neunziger Jahren mit seiner „Präventivkriegsthese“ genannten Argumentation von einem 1941 bevorstehenden sowjetischen Angriff für Furore sorgte, dem Hitler nur zuvorgekommen sei.

Chmelnizki: Ich kenne Suworow persönlich und habe Historiker im In- und Ausland gefragt, ob sie seinen Thesen etwas abgewinnen können und sie um Beiträge gebeten. Nicht alle haben pro Suworow geschrieben, so hat etwa der führende russische Militärhistoriker Michail Miltjuchov nicht nur bei uns publiziert, sondern auch in einer darauf erscheinenden Publikation, deren Ziel es war, uns zu widerlegen.

Meine Bände sind im Moskauer Jausa-Verlag erschienen, dem zweitgrößten Verlagshaus Rußlands, haben sich gut verkauft und die Diskussion erneut angestoßen, wie die Gegenpublikation beweist.

In Deutschland haben Sie lediglich einen Band veröffentlicht, und das im weitgehend unbeachteten und stigmatisierten rechten Verlag Pour le Mérite. 

Chmelnizki: Wenn alles, was Ihnen zu meinem Buch als Kritik einfällt, ist, daß es hier in einem rechten Verlag erschienen ist, dann bin ich zufrieden, denn dann gibt es offenbar keine wissenschaftlichen Einwände. Wissen Sie, es ist mir egal, ob der Verlag, in dem ich publiziere, links, rechts oder Mitte ist, solange er mir die Möglichkeit gibt, mein Buch unzensiert zu veröffentlichen. Jausa etwa ist ein völlig unpolitischer Verlag, die bringen alles heraus, was Geld bringt.

Chmelnizki zieht die Alleinschuld Hitlers auf Kosten Rußlands in Zweifel? Oh, ich bin sicher, daß das den Lektoren, die mein Buch betreut haben, persönlich nicht gepaßt hat, aber sie haben es dennoch ordentlich lektoriert, denn Jausa erhoffte sich, damit Geld zu machen, und sie haben sich nicht verrechnet. Natürlich würden sie ebenso ein Buch herausbringen, das mich in Bausch und Bogen verdammt, wenn es sich nur verkauft. Sollen sie! Ich akzeptiere das.

Und es ist mir auch egal, ob den Lektoren bei Pour le Mérite meine Thesen gefallen oder nicht. Am Ende hängt die Qualität des Verlages von der Qualität der von ihm herausgegebenen Bücher ab. Ich trage die Verantwortung für die Qualität meines Buches, bin aber auch mit dem wissenschaftlichen Niveau der Produktion bei Pour le Mérite sehr zufrieden. Und so soll auch das mir recht sein, da es letztlich der Meinungsfreiheit dient, wenn kein anderer Verlag mein Buch in Deutschland herausbringen will. 

„In Berlin gelten meine Thesen als rechts, in Moskau als links“

War das der Fall?

Chmelnizki: Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nicht darum bemüht, hier einen Verlag zu finden. Pour le Mérite kam auf mich zu.

Wo stehen Sie politisch?   

Chmelnizki: Ich würde mich einen Demokraten nennen. „Links“ würde ich ablehnen, weil ich in Rußland gesehen habe, wohin linke Ideologien führen. Ebenso „rechts“, denn für mich haben Nationalismus und Patriotismus eine klar negative Bedeutung. Ich habe 1999 mein erstes Buch zum Thema Rassismus und Nationalismus der sowjetischen Emigranten veröffentlicht.

Und ich habe in einem Beitrag für die Zeitung Die Welt den russischen Regimekritiker Alexander Litwinenko verteidigt. Aber gerade an meinen Fall sehen Sie, wie absurd der Versuch einer politischen Zuordnung über dieses Thema ist. Denn während man in Deutschland für Thesen, wie Viktor Suworow sie vertritt, ins „rechte Ecke“ gestellt wird, ist es in Rußland gerade umgekehrt, hier werden seine Thesen vor allem von liberalen und demokratischen Leuten unterstützt, und dagegen sind Rechte, Neofaschisten, Stalinisten.

Nun, ich habe diese Thesen also sowohl in Rußland als auch in Deutschland veröffentlicht: Bin ich nun ein „Linker“, wie die Russen, oder ein „Rechter“, wie die Deutschen sagen würden? Sie sehen, wie absurd das alles ist. Aber wenn es Sie beruhigt, ich wähle quasi die FDP.

Allerdings fehlte Suworow letztlich doch der endgültige Beweis für seine These.

Chmelnizki: Das sehe ich anders. Ich habe  die Epoche des Stalinismus intensiv studiert: Man muß begreifen, daß es ein Muster in Stalins Politik gibt, das es zu erkennen gilt. Nämlich, daß er alles einem Ziel unterordnete: dem Militär zu dienen. Die These Suworows – Stalin habe einen Krieg gegen den Westen geplant – hat dann sehr viele der Ungereimtheiten erklärt, auf die ich zuvor gestoßen war. 

Auch die Autoren dieser Zeitung konstatierten damals nach Prüfung von Suworows Thesen, daß der letzte Beweis fehlt. 

Chmelnizki: Suworow fehlen meiner Meinung nach keine Beweise. Daß Stalin keine anderen Pläne hatte, als Europa – vor allem Deutschland, aber auch die asiatischen Länder – anzugreifen, um sein Reich zu vergrößern, und daß der Angriff auf Deutschland für die Sommer 1941 geplant wurde, hat Suworow ausreichend bewiesen.

Und viele andere Wissenschaftler haben Ergebnisse seiner Arbeit mit eigenen Forschungen bestätigt. Tragfähige Argumente für eine alternative These fehlen dagegen komplett! Es gibt gar keine argumentierende Theorie, wonach Stalin nicht Angriffs-, sondern Verteidigungspläne hatte. Oder weder an den Angriff noch an die Verteidigung gedacht hat.

Dafür gibt es absolut keine Beweise. Alles spricht dafür, daß die ganze Innen- und Außenpolitik Stalins immer die geheimen Militärziele hatte. Nehmen Sie zum Beispiel die Kollektivierung und Industrialisierung. Wenn Sie sie näher untersuchen, stellen Sie fest, daß diese keineswegs darauf abzielten, das Land zu entwickeln und die Versorgung sicherzustellen, sondern vielmehr darauf, die Grundlage für ein mächtiges, modernes Militär zu schaffen.

Denn was bedeutet Industrialisierung? Es bedeutet Erhöhung des Lebensstandards. In der Sowjetunion Stalins aber ging die Erzeugung ziviler Güter immer weiter zurück! Schließlich kam es gar zu einer Hungerkrise von apokalyptischem Ausmaß, bei der bekanntlich Millionen Sowjet-Bürgern verhungerten.

Warum? Weil die Kollektivierung und Industrialisierung nicht dem Aufbau der zivilen, sondern der Wehrwirtschaft dienten. Und während die eigenen Bürger verhungerten, exportierte man Lebensmittel und kaufte im Ausland Industrietechnologie für Waffenproduktion, und zwar in den USA und Deutschland. 

„Stalin plante Kriegsdenkmäler schon vor Hitlers Angriff!“

Eigentlich sind Sie Architekt, wie kamen Sie überhaupt zu diesem Thema?

Chmelnizki: Ich habe über die Architektur des Stalinismus promoviert, wozu es nötig war, tief in dieses Kapitel der Geschichte einzutauchen. Und es gibt viele Verbindungen zwischen Architektur- und Militärgeschichte Stalins. Dabei bin ich zum Beispiel auf ein merkwürdiges Bauprojekt gestoßen:

Im Frühjahr 1941 – noch vor dem Angriff Hitlers! – gab es einen Architekten-Wettbewerb für ein Siegesmal für die „Eroberung von Perekop“, einem Ort auf der Krim, wo im Bürgerkrieg ein absolut unbedeutender Sieg der Roten Armee errungen wurde. Als ich dieses seltsam verspätete Projekt näher untersuchte, wurde mir plötzlich klar, worum es sich eigentlich handelte.

Meine These: Das war der Vorwand für die Gestaltung eines sowjetischen Siegesmals, wie es später, bei einem Angriff nach Westen, in allen westlichen Hauptstädten hätte errichtet werden sollen! Oder denken Sie an das Denkmal für die Luftbrücke in Berlin. Wie können die Deutschen das Luftbrückendenkmal und das Sowjetische Ehrenmal in Berlin mit seinen Stalin-Zitaten im Gold gleichzeitig ehren?

Aber ich frage mich, wenn die westlichen Intellektuellen schon dazu bereit sind, den Stalinismus zu ignorieren, warum wird ihnen nicht wenigstens klar, daß sie mit dieser Deutung des Kriegsbeginns auch die nationalistische Deutung Putins und Medwedjews unterstützten und so den sonst von ihnen stets kritisierten Kurs Rußlands nach rechts? 

Bleibt also die stalinistische Deutung des Kriegsbeginns nun für alle Zeit bestehen?

Chmelnizki: Das glaube ich nicht, früher oder später wird eine neue Generation von Historikern und – was noch wichtiger ist – von Lesern kommen. Ich denke, der Wandel kündigt sich heute schon an, etwa durch Historiker wie Heinz Magenheimer, Bogdan Musial oder Stefan Scheil. Und nicht zuletzt habe ich die Hoffnung, daß dieses auf wundersame Weise ausgerechnet in Westeuropa überlebende letzte stalinistische Dogma am Ende doch an der Realität der historischen Erfahrung der Osteuropäer scheitern wird. 

Dr. Dmitrij Chmelnizki: Der „Historiker und Rußlandexperte“ (Die Welt) ist Herausgeber einer erfolgreichen russischen Buchreihe zum Zweiten Weltkrieg, die der Fixierung der in Europa und den USA vorherrschenden Deutung auf Hitler als Alleinverantwortlichen für den Kriegsbeginn widerspricht.

Die  von Chmelnizki 2006 gestartete Reihe versammelt unabhängige und etablierte Historiker aus Rußland, Großbritannien, Deutschland, Israel und den USA, die überwiegend eine entscheidende Mitverantwortung Stalins nachweisen. Chmelnizki, geboren 1953 in Moskau, studierte ursprünglich Architektur in Duschanbe, Leningrad und Berlin.

1987 gelang der jüdischen Familie die Ausreise nach Deutschland, wo der Publizist seitdem lebt. Im April gab er in Deutschland gemeinsam mit dem Historiker Viktor Suworow den Sammelband „Überfall auf Europa. Neun russische Historiker belasten Stalin“ im Verlag Pour le Mérite heraus.

JF 36/09

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