Fünfmal am Tag ruft der Muezzin vom Minarett der Moschee zum Gebet, und dann stockt in islamischen Ländern der Verkehr, weil alle Gläubigen innehalten, sich gen Mekka verneigen und ihren Glauben an Allah und seinen Propheten Mohammed bekennen. Das gemeinsame Gebet in der Öffentlichkeit hat schon etwas Beeindruckendes.
Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte das christliche Glockengeläut eine ähnliche Wirkung. Denn die Kirchenglocken rufen nicht nur zum Gottesdienst, sie rufen auch dreimal täglich zum Gebet auf, was vor allem in den frühen Morgenstunden heute mitunter auf Kritik stößt. Früher jedoch unterbrachen die Menschen, sobald die Glocken läuteten, ihre Arbeit und begannen, wo sie gerade waren, zu beten. Protestanten beteten den Morgen-, Mittag- oder Abendsegen (nach Luther sollte man sich hierbei auch bekreuzigen!), während Katholiken den "Engel des Herrn" beteten.
Ursprünglich kannte man gemeinsame Gebetszeiten nur in den Klöstern. Siebenmal am Tag riefen dort die Glocken zum gemeinsamen Gotteslob. Es waren dann die Franziskaner mit ihrer volksnahen Frömmigkeit, die im 13. Jahrhundert erstmals zum gemeinsamen Gebet in der Familie und am Arbeitsplatz einluden. Hierbei den "Engel des Herrn" zu beten, forcierte vor allem Papst Pius V. im 16. Jahrhundert. Bei diesem Gebet wird dreimal das "Gegrüßet seist du, Maria" gebetet und jeweils mit einem anderen Satz eingeleitet.
"Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist." – Gott will das Heil des Menschen, doch er bezieht diesen dabei mit ein. Er wartet auf die Zustimmung des Menschen. Erst durch das Ja-Wort Mariens wird das Heilshandeln Gottes am Menschen möglich.
"Maria sprach: Siehe ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort." – Ohne Rückfragen oder Bedingungen läßt sich Maria auf das Wort Gottes ein. Dadurch wird die Menschwerdung Gottes ermöglicht. Während die vorausgegangenen Schriftworte aus dem Lukas-Evangelium stammen, wird nun der Höhepunkt des Geschehens ausgedrückt mit den poetischen Worten des Johannes-Evangeliums:
"Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." – Dies ist der zentrale Satz des Weihnachtsevangeliums, das bis zur Liturgiereform auch am Ende jeder heiligen Messe bekannt wurde – natürlich in lateinischer Sprache: "Et verbum caro factum est et habitavit in nobis."
Das Faktum, das hier benannt wird, ist der Kernpunkt des christlichen Glaubens: Gott ist Mensch geworden. Eine solch gewichtige Aussage, die uns nicht nur vom Islam, sondern von allen anderen Weltreligionen unterscheidet, muß täglich bekannt werden.
Täglich? In Heinrich Bölls satirischer Erzählung "Nicht nur zur Weihnachtszeit" aus dem Jahr 1969 will Tante Milla jeden Tag Weihnachten feiern und bringt dadurch die Familie zur Verzweiflung (siehe auch Seite 16). Böll hat hier ein inhaltsleeres Ritual kritisiert, das sich auch heute in massenhaften Weihnachtsfeiern äußert. Ebenso gilt es jedoch, einem radikal individualisierten Glauben zu widersprechen. Christen früherer Zeiten waren sich bewußt, daß sie sich im Glauben stärken mußten, indem sie sich die zentralen Heilsgeschehen stets neu in Erinnerung riefen.
Denn im Christentum geht es eben nicht in erster Linie um Werte oder Ideale, sondern um reale Ereignisse. Während die Tage für Tod und Auferstehung Jesu von Anfang an mit der biblischen Angabe "14. Nissan" fest terminiert waren, gab es für den Geburtstag Jesu kein überliefertes Datum. Das Verlangen, auch dieses Ereignis an einem festen Tag zu feiern, wurde immer stärker; denn ohne Geburt keine Kreuzigung und dann auch keine Auferstehung.
Lange Zeit wurde die Auffassung vertreten, mit der Wahl des 25. Dezembers wollte die Kirche das germanische Sonnenwendfest verdrängen. Allerdings setzt sich mehr und mehr die These durch, daß die Verkündigung an Maria bewußt an dem Tag gefeiert wurde, an dem nach jüdischer Tradition die Welterschaffung begann, nämlich am 25. März. Neun Monate später konnte dann Christi Geburt gefeiert werden. Noch einmal ist das Ereignis der Menschwerdung abhängig von der Einwilligung Mariens in den Willen Gottes.
Beide Szenen ergänzen einander, wenn der Katholik den "Engel des Herrn" betet. Bei diesem Gebet auch eigene Anliegen mit einfließen zu lassen, ist uralter Brauch. So betet man oft für die Verstorbenen, aber auch um geistliche Berufe oder für die verfolgten Christen auf der ganzen Welt. Im Jahr 1954 hat der Münchner Kardinal Joseph Wendel, der zwei Jahre später erster Militärbischof der Bundeswehr werden sollte, angeregt, beim "Engel des Herrn" für die Einheit des Vaterlandes zu beten. Wie viele Menschen seinem Aufruf gefolgt sind, läßt sich wohl schwer ermitteln; doch jene, die es taten, konnten 35 Jahre später sagen, daß all ihr Beten nicht umsonst war. Es erfolgte eine friedliche Wiedervereinigung des geteilten Deutschland.
"Halte Ordnung, und die Ordnung wird dich erhalten." Dieser Ausspruch des heiligen Thomas von Aquin deutet den durch feste Gebetszeiten strukturierten Alltag. Über Jahrhunderte hinweg hat diese Ordnung in unserem Land nicht nur dem einzelnen Gläubigen Halt gegeben, sie hat vielmehr ein ganzes Volk gefestigt in der Zusage, daß Gott einer von uns geworden ist – in allem uns gleich außer der Sünde.
Immer noch läuten in weiten Teilen unseres Landes dreimal täglich die Kirchenglocken. Doch wer denkt dabei an die Verkündigung an Maria oder an die Geburt Christi an Weihnachten?
Die Zahlen der Koranschulen und Moscheen in unserem Land nehmen rasant zu. Der Tag scheint nicht mehr fern, an dem auch in Deutschland der Muezzin vom Minarett den Glauben an Allah in alle Welt hinaus ruft. Vielleicht werden wir uns erst dann des Wertes unseres eigenen Glaubens bewußt. Dabei könnten wir den Schatz unseres christlichen Glaubens so leicht wiederentdecken, wenn wir nur das Läuten der Glocken bewußter hören würden und es deuten könnten.