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Keine Nation in der Nation

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Manchmal gewinnt man aus dem Vergleich historischer Lagen Anregungen für die Lösung von Problemen der Gegenwart. Das gilt auch für den Fall der multikulturellen Gesellschaft. Multikulturalität war „Verfassungsgrundlage“ und Integrationsprinzip der alten, ethnisch vielgestaltigen dynastischen Reiche. Kulturelle Unterschiede und Abstufungen untermauerten ein komplexes Rangsystem; die einzelnen Schichten und Zwischenkörperschaften grenzten sich durch eigene Handlungsnormen, Symbole, Bräuche, Sprachen und Sprachstile, Trachten und Traditionen voneinander ab. Dagegen beruht die Idee der Nation auf der Überzeugung, daß der legitime politische Verband durch die Homogenität einer generalisierten Hochkultur gekennzeichnet ist.

Multikulturalität wurde daher im Europa der Aufklärung und vor allem seit dem Eintritt des Nationalstaats in die Geschichte als Problem empfunden, als die Nationalstaaten das Erbe des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation antraten und nach einer neuen Legitimierung suchten. Man sah darin jedoch ein politisches Problem, das seinerzeit unter Bezeichnungen wie „bürgerliche Gleichstellung“ oder „jüdische Emanzipation“ firmierte.

Auch die Gegenwart steht im Zeichen eines Epochenwandels. Im Zuge der Globalisierung werden die Souveränitätsrechte der Nationalstaaten mehr und mehr von bürokratischen Superstrukturen wie der Europäischen Union oder von übernationalen ökonomischen Netzwerken in Frage gestellt. Die multikulturelle Gesellschaft im Gefolge der Einwanderung von Muslimen nach Europa wird als zeitgemäße Antwort auf die mit der Globalisierung verbundenen sozialen, kulturellen und ökonomischen Herausforderungen propagiert. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen der säkularen, ursprünglich christlichen Kultur Europas und dem Islam wird Multikulturalität heute jedoch als kulturelles Problem aufgefaßt. Diese Einordnung hindert uns daran, das Problem als politisches wahrzunehmen und nach entsprechenden Lösungen zu suchen.

Der Vergleich mit der historischen Lage zu Beginn der Moderne lehrt uns, das Problem wieder vom richtigen Blickwinkel aus zu sehen. Seinerzeit wurde nämlich ein Zusammenhang zwischen Assimilation und bürgerlicher Gleichstellung („Emanzipation“) der Juden hergestellt: Man akzeptierte ihre „bürgerliche Verbesserung“ grundsätzlich als Postulat der Vernunft, verband mit der rechtlich-politischen Gleichstellung jedoch die Forderung nach Assimilation. In aller Klarheit kommt dieser Standpunkt in der Rede des Abgeordneten Stanislas Graf von Clermont-Tonnerre am 23. Dezember 1789 vor der französischen Nationalversammlung zum Ausdruck:

„Das Gesetz darf das Glaubensbekenntnis des Menschen nicht antasten (…) Die Macht des Gesetzes erstreckt sich lediglich auf die Handlungen (….) Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren. Sie sollen Bürger werden. Nun behauptet man, sie selbst wollten keine Bürger sein. Mögen sie es nur ausdrücklich erklären, dann sollen sie des Landes verwiesen werden, denn es darf keine Nation in der Nation geben“ (Friedrich Battenberg, „Das europäische Zeitalter der Juden“, Band II).

Die Religion wurde zur Privatangelegenheit erklärt, die Unterscheidung zwischen Christen und Juden sollte im gemeinsamen Bürgersein aufgehoben sein. Die Lösung des Problems der „kulturellen Verschiedenheit“ bestand im Ausgleich der privatisierten kulturellen Unterschiede durch eine generalisierte nationale Hoch- und Leitkultur. Damit sollte die Fragmentierung des Gemeinwesens verhindert und die Stabilität des Staates gesichert werden.

„Keine Nation in der Nation“: Wer heute in Deutschland dem Multikulturalismus mit Skepsis begegnet und für ein „Europa der Vaterländer“ eintritt, in dem handlungsfähige Nationalstaaten weiterhin den politischen Rahmen bilden, der Recht und Sicherheit der Bürger garantiert, steht im Visier der Kritik eines von antinationalem Selbsthaß geprägten Nihilismus, der nicht zwischen Patriotismus, Nationalismus und Chauvinismus zu unterscheiden weiß.

Dieser sich als „links“ mißverstehende Antipatriotismus scheint eine Besonderheit deutschsprachiger Länder zu sein, die anderswo in dieser Form nicht vorkommt. Mit genuin linken Positionen, etwa dem Marxismus-Leninismus, hat er jedenfalls nichts zu tun. Auch dieses Denkgebäude erkennt ja die Vaterlandsliebe als historische Notwendigkeit an und gesteht ihr den gebührenden Platz auf dem Weg zur letztlichen Verschmelzung der Nationen zu. Damit soll hier nicht etwa der Marxismus-Leninismus gerechtfertigt, sondern darauf hingewiesen werden, daß auch für diese Lehre der Patriotismus aus guten Gründen etwas Selbstverständliches ist.

Die Lösung des Problems der „kulturellen Verschiedenheit“ bestand im Ausgleich der privatisierten kulturellen Unterschiede durch eine generalisierte nationale Hochkultur. Damit sollte die Fragmentierung des Gemeinwesens verhindert werden.

Es handelt sich dabei freilich um einen dezidiert antibürgerlichen Patriotismus, der nur in „den Massen“ die wahren Patrioten sieht. Aus Lenins Sicht besteht die historische Aufgabe der Nation darin, die Menschen bis zum Sieg des Kommunismus in großen, beständigen, lebensfähigen Gemeinschaften zusammenzuschließen. Daher lehnten er und Stalin das von den österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer und Karl Renner vertretene Programm der „national-kulturellen Autonomie“ strikt ab. Dem darin enthaltenen Plan zur Förderung von Parallelkulturen auf dem Gebiet des habsburgischen Vielvölkerstaates entspricht heutzutage das Projekt „multikulturelle Gesellschaft“, obwohl in Deutschland dafür keine Voraussetzungen bestehen und diese durch die politisch gewollte Einwanderung erst geschaffen werden müßten.

Auch in der Gegenwart ist die Existenz beständiger und lebensfähiger Nationen notwendig, aber nicht etwa, um die kommunistische Utopie zu verwirklichen, sondern um der ganz realen Gefahr zu begegnen, die von dem alle traditionalen Identitäten einebnenden „Marktmonotheismus“ ausgeht. In einer paradoxen Umkehr der Verhältnisse wurde die Globalisierung ja nicht durch den „Internationalismus“ der Linken, sondern durch den „Kosmopolitismus“ des Kapitals verwirklicht. Der Multikulturalismus zerstört jedoch die Widerstandsfähigkeit der Nationen und Nationalstaaten und dient damit letztlich den Interessen der Diktatur der Netzwerke.

Im Grundsatzprogramm der Bündnisgrünen (April 2002, S. 123) wird die Multikulturalität mit folgenden Worten gepriesen: Die „multikulturelle Gesellschaft hat eine positive Dimension, weil sie … sich abgrenzt – beispielsweise zu der Idee einer deutschen Leitkultur, die zur Assimilation und Unterordnung verpflichten will. Kulturelle Vielfalt und interkultureller Austausch sind Zeichen der Vitalität einer Gesellschaft“. Hier werden rhetorische Nebelkerzen geworfen: Der Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ bezieht sich ja nicht auf die unbestreitbaren Vorzüge des interkulturellen Austausches, sondern auf die intrakulturelle politische Fragmentierung durch „Nationen in der Nation“, die die „Vitalität einer Gesellschaft“ wohl kaum stärken dürfte.

Aber darum geht es der Multikulti-Ideologie auch gar nicht. Sie drapiert ein politisches Programm als kulturelles Problem, wie sofort deutlich wird, wenn wir uns vor Augen halten, in welchem Zusammenhang normalerweise von „multikultureller Gesellschaft“ die Rede ist. Gibt es denn in Deutschland Probleme mit den hier lebenden Italienern, Franzosen, Spaniern? Fordern etwa Vietnamesen die doppelte Staatsbürgerschaft, Koreaner Koreanisch an deutschen Gymnasien und Buddhisten die Befreiung ihrer Kinder vom Schulsport? Niemand aus den entsprechenden Herkunftsländern möchte sich in Deutschland in eigenen ethnisch homogenen Gruppen abgrenzen, auch integrationswillige Muslime wollen es nicht.

Cui bono? Die Parole von der multikulturellen Gesellschaft dient der Legitimierung politischer Forderungen aus einer ganz bestimmten Richtung: Teil­einführung der Scharia in die deutsche Rechtsprechung, islamische Schiedsgerichtsinstanzen für Familienangelegenheiten, Türkisch als Lehrfach an den Schulen, doppelte Staatsbürgerschaft für türkische Einwanderer, „damit sie ihre kulturelle Identität nicht verlieren“. Ein macht- und selbstbewußter fremder Staat stellt sich hinter seine Bürger mit deutschem Paß oder ohne deutschen Paß.

Die Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan vom 10. Februar 2008 in der Köln-Arena läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß es bei all dem überhaupt nicht um kulturelle Vielfalt geht, sondern um die Durchsetzung der nationalen Interessen der Türkei beziehungsweise ihrer gegenwärtigen Regierung. Der Multikulturalismus hinter der verschwurbelten Prosa des bündnisgrünen Programms trägt nicht zum Abbau des Nationalismus bei, sondern fördert, gewollt oder ungewollt, den türkischen.

Das Problem ist nicht die kulturelle Vielfalt in diesem Land, sondern die politische Einfalt jener gutwollenden Publizisten und Pastoren, Kirchenmänner und Kulturwissenschaftler, die den Zumutungen aus Ankara stets nur mit „Toleranz und Weltoffenheit“ begegnen. Sie verstehen nicht, daß ein Glaube, der das ganze Leben durchdringt und nicht zwischen Staat und Religion, Politik und Kultur unterscheidet, etwas anderes ist als die politisch folgenlosen kirchlichen Privatveranstaltungen unter dem Dach des säkularen Staates in einer weitgehend religionslos gewordenen Gesellschaft, für die alles verhandelbar ist. Daß immer mehr Moscheen als Fatih-Moscheen an Mehmet II. erinnern, der nach der Eroberung von Konstantinopel den Beinamen Al Fath (der Eroberer) erhielt, gibt ihnen nicht zu denken.

Will man diesen Ansprüchen entgegentreten, dann ist es geboten, auf die als „Multikulturalität“ getarnte politische Fragmentierung zu reagieren. Auf welche Weise kann dies geschehen? Das erfolgreiche preußische Modell des überethnischen Staates mit einer starken Staatsidee und einem damit verbundenen Pflichtethos kann angesichts des ausgeprägten Individualismus und der historischen Gegebenheiten nicht mehr neu belebt werden.

Somit bleibt als Alternative nur der Nationalstaat auf der Grundlage eines voluntaristischen Begriffs der Nationalität als lebensfähige und beständige Form des Zusammenlebens zur Wahrung der Interessen seiner Bürger. Im Gegensatz zur Propaganda der Anhänger der multikulturellen Gesellschaft grenzt der Nationalstaat nämlich nicht aus, er schließt ein! Die Integration der Muslime in unsere Gesellschaft kann daher heute nicht gegen, sondern nur mit dem und durch den Nationalstaat gelingen.

Im Gegensatz zur Propaganda der Multikulturalisten grenzt der Nationalstaat nämlich nicht aus, er schließt ein. Die Integration der Muslime in unsere Gesellschaft kann daher heute nicht gegen, sondern nur mit dem und durch den Nationalstaat gelingen.

Es gibt viele Gründe, die Existenz von Parallelkulturen zu fördern. Parteien reflektieren auf Wählerstimmen, Wissenschaftler auf Forschungsmittel. Keiner dieser Gründe ist ein guter Grund. Wer es mit den Einwanderern gut meint, wer sie auch als Menschen ernst nimmt und nicht nur Exoten oder politische Verfügungsmasse in ihnen sieht, der muß alles daransetzen, sie zu Landsleuten und Bürgern zu machen. Mit anderen Worten: Es darf auch heute keine „Nation in der Nation“ geben.

Knapp 220 Jahre nach Clermont-Tonnerres Rede zur „Judenfrage“ hielt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einen Vortrag, der auf analoge Weise das Verhältnis des säkularen Staates zu den Muslimen behandelt und so das Problem der Multikulturalität wieder auf seine politische Dimension zurückführt. Nur das Handeln zählt, nicht die Gesinnung; auch Muslime haben im Namen ihrer Religion ein Recht auf das Hineinwirken in den öffentlichen Raum; es stehen ihnen jedoch keine Sonderrechte aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgruppe zu, wohl aber die Gleichberechtigung als Staatsbürger. Böckenförde fordert auch eine wehrhafte Haltung des Staates: Besteht der berechtigte Verdacht, daß im Namen der Religionsfreiheit diese abgeschafft werden soll, so ist er „ungeachtet seiner Freiheitlichkeit und Offenheit gehalten, Barrieren zu errichten, die die Anhänger des Islam daran hindern, direkt oder indirekt aus der Minderheitenposition … herauszutreten“ („Der säkularisierte Staat“). Mit „Rechts“ oder „Links“ hat das nichts zu tun, sondern mit der selbstverständlichen Selbstverteidigung des säkularen Staates.

Dieser Staat lebt jedoch von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann – auf dieses Dilemma hat Böckenförde einst selber aufmerksam gemacht. Woher gewinnt er heute und in der Zukunft das Maß an tragendem Ethos, ohne das ein gedeihliches Zusammenleben in einer freiheitlichen Ordnung unmöglich ist? Eine Antwort Böckenfördes lautet: Der säkularisierte Staat ist auf eine gelebte Kultur angewiesen, die eine relative Gemeinsamkeit vermittelt.

Diese Kultur ist jedoch dem Ursprung nach christlich, auch wenn wir selber womöglich in der Mehrzahl keine Christen mehr sind. Wie jede staatliche Ordnung besitzt auch jene des säkularen Staates religiöse Wurzeln, die der Staat um seiner Neutralität gegenüber den Religionen willen nicht verleugnen darf. Peter Scholl-Latour hat es auf den Punkt gebracht: Wir können dem Islam nur begegnen, „wenn wir – so wir schon den christlichen Glauben nicht mehr haben – wenigstens auf dem festen Boden unserer christlichen Kultur stehen“ (JF 41/06). Denn in dieser Kultur ist die auf dem Boden des Christentums entstandene Überzeugung verkörpert, daß der einzelne freien Willen und das Recht auf den eigenen Weg besitzt, auch wenn dieser Weg nicht zu einem religiösen Bekenntnis führt.

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Casino-Kapitalismus und die Linke („Das Neue Antifa-Jerusalem“, JF 43/08).

Bild: Das Heilige Römische Reich mit seinen Reichsständen (Quaternionenadler), kolorierte Darstellung von David de Negker nach der Darstellung von Hans Burgkmair dem Älteren, Augsburg 1510: Der Adler symbolisiert das Reich als Ganzes, in das sich die Glieder einzufügen haben – im Zentrum der gekreuzigte Christus.

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