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Marc Jongen, ESN Fraktion

Pankraz, Niklas Luhmann und die Hypo Real Estate

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Ein Bann ist gebrochen. Alle politischen Aktivisten hierzulande, bis hin zu höchsten Würdenträgern, reden, wenn sie die Verhältnisse im Lande meinen, nur noch von „System“. Das System, heißt es, sei akut bedroht. Wer es retten wolle, der müsse Pleitegänger wie die Hypo Real Estate Bank bis zum Gehtnichtmehr mit Geld füttern, weil sie „systemisch“ seien. Opel, sagt die Bundeskanzlerin, sei nicht systemisch, aber Hypo Real Estate sei systemisch. Wenn sie zusammenbreche, breche das ganze System zusammen.

Um zu ermessen, was hier passiert ist, sollte man sich der politischen Rhetorik des vorigen Jahrhunderts erinnern. „System“ war damals ein Schimpfwort. Wer die BRD schlechtmachen wollte, der nannte sie – wie es die 68er taten – das „Scheißsystem“. Für die Hitler-Leute war die ganze Weimarer Republik „die Systemzeit“, eine durch und durch verächtliche Sache. Hingegen wäre es nie einem biederen Parteigänger der Mitte eingefallen, die von ihm bevorzugte Herrschaftsform ein System zu nennen.

Unter „System“ verstanden alle eine Herrschaft, die einem von oben oder außen künstlich übergestülpt worden war, die also eigentlich gar nicht hergehörte und der Natur und den natürlichen Bedürfnissen der von ihr Beherrschten frontal entgegenlief. Oswald Spengler machte die fundamentale Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System. Gute Herrschaft war eine naturwüchsige, gleichsam biologische Lebenswelt, kein ausgetüfteltes, nur widerwillig ertragenes System.

Das Wort „System“ bedeutet etymologisch in der Tat ja nichts anderes als „künstlich Zusammengestelltes“, es war die Lieblingsvokabel der Scholastiker im Mittelalter, die sich als erste der Illusion hingaben, die ganze Welt zu Ehren Gottes „ins System“ bringen zu können, sie mit durchgehender Rationalität zu überziehen und dadurch „operabel“ zu machen. Wir Heutigen haben vielfach erfahren müssen, daß ein stur an systematischen Vorgaben orientiertes Handeln die unheilvollsten Nebenfolgen zeitigen und geradewegs in die Katastrophe führen kann. Nicht einmal für die Systematisierer selbst zahlt sich solches Geschäft aus. Kein Großdenker ist berühmt und einflußreich geworden, weil er ein komplettes, fixes, formal in sich stimmiges System geschaffen hat.

Nicht das System interessierte und interessiert, sondern immer nur die jähe, punktuelle oder kurzstreckige Einzelerkenntnis, irgendein neuer Algorithmus, irgendein erhellender Zugriff, ein augenöffnendes Stichwort. Kants berühmte Theorien, die Bildung synthetischer Urteile a priori, der kategorische Imperativ – sie waren kein System, es waren Aufforderungen an die Hörer und Leser, sich mutig ihres Verstandes zu bedienen und nicht auf systemische Vorgaben hereinzufallen. Das machte Eindruck. Doch niemand kümmerte sich je, bei allem Respekt, um Kants „System“.

Später bei Hegel, der sich in seinem Denken ganz bewußt und energisch unter Systemzwang stellte, entwickelte sich der Systemtick geradezu zur weltgeschichtlichen Katastrophe. Die Linkshegelianer, unter ihnen ein gewisser Karl Marx, glaubten allen Ernstes, daß das „System“, der „Weltgeist“, ausgerechnet beim Herrn Professor Hegel in Berlin zu Potte gekommen war und daß man nun buchstäblich alles tun müsse, um dieses System in die Politik einzuführen, es „auf die Füße zu stellen“, es zu „verwirklichen“. Unter den Folgen leiden wir alle heute noch.

Freilich, spricht man mit einem jener neuartigen Politiker, die zur Zeit so begeistert über Systemzwang, Systemvergleich oder systemische Ordnungsfaktoren dozieren, so erfährt man,  daß sie sich keineswegs an Marx und Hegel orientieren und auch nichts mehr auf die Füße stellen wollen. Ihr Guru heißt vielmehr Niklas Luhmann, ihr großes Mantra ist dessen „dynamische, strikt an der Wirklichkeit orientierte“ Systemtheorie.

Luhmann, so wird man belehrt, habe allen Großtheorien und utopischen Flausen den Laufpaß gegeben. Er kenne nur noch Netzwerke aus kybernetischen, selbstreferentiellen Verknüpfungen, wobei es im Grunde völlig gleichgültig sei, ob es sich dabei um einen natürlichen oder um einen künstlichen, um einen spontanen oder um einen von Intelligenz gesteuerten Vorgang handele.

Und dann der große Knüller dieser modernen Systemtheorie: der „Abbau von Komplexität“! Ja, das sei des Pudels Kern! Die Prozesse müßten vereinfacht, auf einige wenige Formeln und methodische Tricks herunterreduziert, mit einem Wort: in ein klares, übersichtliches System verwandelt werden, nur so sei moderne Politik überhaupt noch möglich.

Pankraz fragt sich achselzuckend, wo denn da der Unterschied zwischen altem und neuen Systemdenken liegen soll. Denn ob nun Reduktion auf einige hochmögende Ideologien („Weltgeist“) oder auf einige wenige soziologische Formeln („selbstreferentielles Netzwerk“) – der Effekt bleibt der gleiche. Gerade das, worauf es ankommt, wird „abgebaut“, vulgo: ignoriert, nämlich die viel geschmähte Komplexität, wie sie nun einmal in den realen Dingen selbst beschlossen liegt.

Der genaue Blick auf die jeweils konkrete Situation verwandelt sich in den Blick durchs Rastermikroskop, unter dem man nur noch schemenhafte Moleküle wahrnimmt. Entschieden wird nur noch nach Schema F, und das ist das Ende jeder guten Politik. Da die Wirklichkeit nun einmal nicht ins System zu pressen ist, hecheln die Systempolitiker dieser Wirklichkeit nur noch hinterher. Manche von ihnen mögen sich für große Strategen halten, es sind aber Gartenzwerge ohne Übersicht und Reichweite.

Für den großen Strategen Bismarck war Politik bekanntlich keine Soziologie, sondern Kunst. Er verzichtete deshalb natürlich nie auf gute Berater, hörte sich alle möglichen Systematiker geduldig an , bis hin zu Ferdinand Lassalle; selbst zu Karl Marx versuchte er Verbindung aufzunehmen. Aber er wußte auch: Das Leben selbst ist kein System, auch das politische Leben nicht. Das war das Geheimnis seines Erfolgs.

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