Ich muß gleich zu Anfang einen Mangel benennen: Es fehlt an Sekundärliteratur im Hinblick auf den zu Ehrenden, genauer an Sekundärliteratur mit seriösem Anspruch. Deshalb hat der Redner sich für seine Laudatio auf die Quellen beschränkt, also auf das, was der politische Schriftsteller Caspar von Schrenck-Notzing selbst veröffentlicht hat. Es handelt sich neben fünf Büchern vor allem um Aufsätze und Glossen. Der früheste Aufsatz, den ich finden konnte, erschien 1962 in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Der Monat. Das war ein Organ, wie man es heute gar nicht mehr kennt, sich eigentlich kaum noch vorstellen kann, denn es diente Intellektuellen verschiedener Richtung als Tribüne, das heißt es wurde tatsächlich diskutiert. In diesem Rahmen kam es auch zu einer Debatte über die allzeit beliebte Frage „Was ist heute eigentlich konservativ?“. Beteiligt waren Golo Mann, der damals noch als Linker gelten durfte und bald seine Unterstützung Willy Brandt leihen würde, Hans-Joachim von Merkatz, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende und dann Totengräber der Deutschen Partei, Klaus Harpprecht, der sich als Prophet der Nostalgie entpuppte, und eben Caspar von Schrenck-Notzing. Was an dessen Einlassung auch nach mehr als vierzig Jahren angenehm berührt, ist der spöttische Ton und der Unwille, die gestellte Frage zu beantworten. Er läßt ungeniert durchblicken, daß er sie für ein Ablenkungsmanöver hält, für einen Versuch, von der Wirklichkeit abzulenken, im Namen eines unverbindlichen oder sentimentalen Prinzips, das man „konservativ“ zu nennen beliebt. Es bleibe so oder so „der Eindruck des ehrbaren, etwas unbeholfenen und gelegentlich schrulligen Bewahrens“. Er erklärt die große „Desillusionierung der Rechten“ nach dem Zweiten Weltkrieg zum Vorteil und den üblichen Katalog der konservativen Werte – Heimat, Grund und Boden, Eigentum, Familie, Sitte, Brauch, Tradition, Freiheit, Recht, Religion – zum „Dekalog des Provinzialismus“. Schrenck-Notzing setzt gegen das Beharrungs- auf das Bewegungspinzip: die „konservative Aktion“, das heißt die Bereitschaft, in der konkreten Lage den politischen Feind zu bestimmen, zu stellen und zu bekämpfen. Von Parteibildung sei eher abzuraten, aber auch der Club mit seinen tiefen Fauteuils eigne sich nicht als Ausgangspunkt. Eher gehe es um Basisarbeit, die Schaffung von Komitees, etwa eins unter der Parole „Schluß mit der Vergangenheitsbewältigung“. Dabei dürfe man vor der Anwendung neuer Methoden nicht zurückschrecken; die moderne Welt mache die Bedienung des „psycho-technischen Schaltbretts“ unumgänglich. Vielleicht sollte man die Gründung der Zeitschrift Criticón durch Caspar von Schrenck-Notzing im Jahr 1970 als Versuch deuten, der „konservativen Aktion“ eine Basis zu schaffen, nicht nur ein Theorie- und Rezensionsorgan herauszugeben, sondern ein Medium, das anstiften sollte, und von einigen in diesem Saal weiß ich, daß sie zu ihrem Tun tatsächlich durch die Criticón-Lektüre angestiftet wurden. Wenn man heute einen Blick auf die Jahrgänge bis 1998 wirft, die Zeit, in der Sie, Herr von Schrenck-Notzing, Criticón herausgaben, kann man sich eines wehmütigen Gefühls kaum entziehen. Einmal, weil Criticón nicht mehr existiert, und in der von ihnen geschaffenen Form schon seit längerem nicht mehr, zum anderen, weil so vieles, was die Hefte an politischen Diagnosen und Prognosen brachten, der Realität ungleich näher kam als das, was massenhaft veröffentlicht wurde und tatsächlich die Tagesordnung bestimmte. In Anknüpfung an eine Sentenz von Gomez Davíla könnte man sagen: Der Linke triumphiert immer, der Konservative behält immer recht. Aber das ist ein schwacher Trost und zumal für einen politisch denkenden Menschen wie Sie, Herr von Schrenck-Notzing. Wenn ich diese Tendenz betone, dann deshalb, weil in der Menge ihrer Veröffentlichungen das unmittelbare Interesse am politischen Geschehen am deutlichsten hervortritt. Das gilt sowohl für das Editorial, mit dem Sie die einzelnen Ausgaben von Criticón einleiteten, wie für Ihre Bücher: das berühmteste über die „Reeducation“ unter dem Titel „Charakterwäsche“, dann „Die Zukunftsmacher“, eine Analyse der Neuen Linken, „Demokratisierung“, eine Auseinandersetzung mit deren zentraler Parole in den siebziger Jahren, der Abgesang auf die alten Parteien – „Honoratiorendämmerung“ – und die Krise der neuen – „Abschied vom Parteienstaat“. Solches Interesse am Politischen, auch an der politischen Aktualität, ist aber nicht zu verwechseln mit Orientierung an der Tagespolitik. Criticón war immer metapolitisch, und das wird man auch von Ihren Büchern sagen können, wahrscheinlich sogar von dem unpolitischsten, dem Erstling „Hundert Jahre Indien“. Denn in der Einleitung kommen sie gleich auf ein Generalproblem bundesrepublikanischer Politik zu sprechen: die Enge ihres Zuschnitts, die sie aber nur als Fortsetzung jener „Isolationismen“ interpretieren, von denen die politische Klasse Deutschlands seit Jahrzehnten (…) bestimmt gewesen sei. Es störte Sie der Mangel an Weltläufigkeit, an Maßstäben, die über das Beschränkt-Heimische hinausreichten. Meiner Meinung nach erklärt sich daraus auch Ihre Neigung, den deutschen Konservatismus mit zwei Seren zu impfen, der angelsächsischen Nüchternheit und der romanischen Kälte des Blicks. Der Bezug auf das Angelsächsische erscheint mir deshalb so wichtig, weil Sie auf der einen Seite eine besondere Art der Amerikakritik pflegen, die vor allem auf die Einflußnahme der USA in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg abhob. (…) Solches Bewußtsein von Gegnerschaft hat Sie im übrigen nie gehindert, sich dem englischen und dem amerikanischen Denken mit besonderem Interesse zuzuwenden. Wir verdanken Ihnen vor allem einige Lektionen über die Art und Weise, wie der Konservatismus in den USA (…) seinen Einfluß organisiert hat, und Sie haben uns dieses Beispiel früh und immer wieder vor Augen gestellt. Als Kontrast könnte man daneben Ihr letztes Autorenporträt für Criticón stellen, das sich mit Wyndham Lewis befaßte. Lewis entsprach in vielen Zügen dem, was man sonst nur den Konservativ-Revolutionären in Deutschland zuspricht. Er brach ganz offensichtlich mit den Regeln der Überlieferung und hielt anders als der Durchschnittstory die britische Welt schon in der Zwischenkriegszeit nicht mehr für gefestigt. Ein Feuerkopf, ein stürmisches Leben, nach eigenem Bekenntnis „im Herzen anarchistisch mit einer gesunden Leidenschaft für die Ordnung“. Wenn ich mir die Frage stelle, was Sie an Lewis interessiert haben mag, dann wahrscheinlich die gewisse Unbarmherzigkeit, mit der er die Gesetze des politischen Geschehens aufdeckt. Er war insofern „Machiavellist“, und ein Autorenporträt Machiavellis gehört zu den ersten, die Sie für Criticón abgefaßt haben. Das war in den siebziger Jahren, als dieser politische Denker noch keineswegs in Mode war, sondern zu den Verfemten gehörte. (…) Sie rechneten Machiavelli offenbar unter die „Entzifferer“, eine allegorische Gestalt aus dem Roman El Criticón des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián; auch er ein Bewunderer von Old Nick. Sie haben nicht nur den Titel von Graciáns Roman für Ihre Zeitschrift übernommen, sondern auch das Pseudonym Critilo für sich selbst gewählt. Critilo ist bei Gracián „der Kritische“, der „Vernünftige“, der die Menschen und ihr Tun durchschaut, der sich weder durch moralische Beteuerungen noch durch die Berufung auf Üblichkeiten irritieren läßt, sondern auf den Grund der Dinge blickt. Er setzt auf „Ent-Täuschung“, und er weiß, daß das ein elitäres und einsames Tun ist. An einer Stelle, die meiner Meinung nach dem Bekenntnis am nächsten kommt, schrieben Sie: „Wenn … die Gemeinschaft das Chaos nicht mehr bändigt, sondern verkörpert, dann kann der Mensch dem blinden Konformismus allein die ‚entziffernde‘ Vernunft entgegenstellen, und die Conditio humana deckt sich darin mit der Zeitsituation, denn ‚die Verpflichtung zur Intelligenz ist dem Menschen in seine chaotische Verfassung gelegt wie ein Demantstein in eine Schüssel von Kraut und Rüben‘ (Heimito von Doderer).“ Mit dieser Aussage ist die denkbar schärfste antiromantische Position bezogen. Eine Position, die es in der Geschichte der deutschen intellektuellen Rechten immer gegeben hat – von Hegel über Max Weber und Carl Schmitt bis zu Arnold Gehlen – , aber sie bezeichnete doch die Position einer Minderheit. Die Romantik war immer stärker, das haben Sie selbstverständlich gewußt und haben es hingenommen. Wenn ich eingangs auf die Debatte von 1962 zu sprechen kam, dann habe ich einen der Diskutanten gar nicht erwähnt, der sogar den Anstoß gegeben hatte: Armin Mohler. In einer Mischung aus Anerkennung und freundlicher Irritation kommentierten Sie damals dessen Versuch, die Konservative Revolution zu neuem Leben zu erwecken, dem „Bedürfnis nach Monumentalität“ entgegenzukommen. Aber die Distanz war doch unübersehbar. Trotzdem haben Sie Mohler in Criticón eine Tribüne gegeben. (…) Wenn ich (…) Vermutungen darüber anstelle, worauf Ihre Verbindung mit Mohler gründete, dann möchte ich annehmen, daß es neben dem Persönlichen eine Klugheitserwägung gab – Mohler hatte eine Feder und repräsentierte ohne Zweifel eine wichtige Tradition der Rechten – und eine Gemeinsamkeit des Herkommens. Was ich damit meine, ist nicht das Vordergründige, also Familie und Stand, diesbezüglich gab es offensichtliche und gravierende Unterschiede, sondern die Tatsache, daß Sie beide zu denjenigen gehörten, die die politische Rechte als intellektuelle Position neu zu begründen suchten. Das sollte man in Ihrem Fall wohl nicht vermuten, als Nachkomme eines alten Münchener Patriziergeschlechts, aber Sie erwähnten einmal, daß Ihre erste geistige Prägung durch Friedrich Wilhelm Foerster, das Schulhaupt des deutschen Pazifismus, erfolgte. Und das in Rechnung gestellt, heißt schließlich, daß Sie in einem, wenn in sonst keinem anderen Sinn ein Vorbild, ein Modell, sind: als der, der die Herausforderung angenommen hat, selbständig, ohne die Hilfe und die Last der Überlieferung, eine unabhängige Position zu beziehen, die aber nicht im Solitären und Privatgelehrtentum stecken bleiben will, sondern danach strebt, wenn nicht die politische, so doch die „kulturelle Mehrheit“ zu ändern, oder wie Critilo einmal bemerkte: „Seit über 200 Jahren haben sich immer wieder Gegner der geistig-kulturellen Gleichschaltung und der Verabstrahierung der Menschen gefunden, man nannte sie allgemein Konservative.“ Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und arbeitet als Studienrat in Göttingen.
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