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Marc Jongen, ESN Fraktion

Pankraz, glückliche Römer und die Reden in der U-Bahn

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Immer und immer wieder dieselbe Leier". "Ich kann das nicht mehr hören". "Immer und immer wieder die gleichen Phrasen". "Das hält auch der Gutwilligste nicht aus". "Ich schalt ab, ich steig aus, die sollen mich sonstwohin lecken!"

So konnte man es anläßlich der schier endlosen medialen "Feiern" zum Kriegsende ’45 in sämtlichen U-Bahn- oder Kneipengesprächen vernehmen, einerlei welche Linie man fuhr oder in welche Gaststätte man eintrat. Die Herrschenden haben es wieder mal übertrieben. Dabei wissen auch sie ganz genau, daß ein Übermaß an Wiederholung psychische Schäden verursacht, die Leute abstumpft, rammdösig macht, letzten Endes verblödet.

Aber offenbar geht es genau darum: Die Leute sollen verblöden, sollen gar nicht mehr zum Nachdenken kommen, sollen nur noch vorgestanzte Phrasen wiederkäuen. Am Ende werden sie den Brei schon schlucken. Auch im alten Rom galt bei den Volksrednern als Devise: "Decies repetita placebit". Zu deutsch: "Zum zehnten Mal wiederholt, wird es gefallen". Glückliche Römer, immerhin. Sie mußten nur neunmal wiederkäuen, wir Heutigen müssen hundertmal, tausendmal, zehntausendmal.

Freilich, eigentlich wiederkäuen müssen die Phrasendrescher selbst, wir anderen müssen nur zuhören, können abschalten. Man wundert sich, wie hart gegen sich selbst die Parolenausgeber inzwischen geworden sind. Frühe Vorgänger gerieten schon in Wut, wenn sie eine Erzählung einmal, ein einziges Mal (!), wiederholen mußten. So Odysseus bei Homer (Odyssee XII, 452/3): "Widerlich ist mir’s, / Noch einmal, was genau verkündigt ward, zu erzählen". Und noch der wackere Johann Peter Hebel regte sich im Jahre 1811 n. Chr. furchtbar über das Sprichwort "Einmal ist Keinmal" auf. "Wer das zuerst gesagt hat", schrieb er in seinem "Schatzkästlein", "der war ein schlechter Rechenmeister. Einmal ist wenigstens Einmal, und daran läßt sich nichts abmarkten."

Sind die modernen Wiederholungs-Spezialisten der Politik schlechte Rechenmeister? Die Dozenten aus der Werbebranche, denen sie folgen und die mit Sicherheit ziemlich gut zu rechnen verstehen, verkünden das Gegenteil. Die Wiederholung ist für sie das A und O jeder Verkaufsstrategie. Nicht nur die Ware, für die eine Rede wirbt, sondern auch diese Werberede selbst ist, so wird gelehrt, ein "Produkt", und Produkte müssen sich – wenigstens so lange, bis das nächste Produkt aus derselben Firma auf den Markt kommt – völlig gleichbleiben, um Erfolg zu haben.

Man muß sie ja "wiedererkennen" können, muß sich an sie "gewöhnen" können, sie müssen beim Kunden möglichst "zum festen Bestandteil seines Alltags" werden. Außerdem müssen sie laut, schrill und "leicht eingängig" sein, damit sie mögliche Konkurrenten übertönen und so gar nicht erst zum Zuge kommen lassen. All das geht nur, sofern sich der Werberedner wiederholt, wiederholt und noch einmal wiederholt.

Auch die politischen Reden sind nach mittlerweile gängiger Auffassung nichts weiter als "Produkte", und folglich haben auch sie sich dem Prinzip Wiederholung zu unterwerfen.

Der beste Polit-Rhetoriker ist heutzutage beileibe nicht derjenige, der seine Rede mit literarischer Ambition aufbaut (aufbauen läßt), sie mit farbigen Metaphern, originellen Vergleichen oder gar Ausflügen in Neuland schmückt, sondern es ist derjenige, der immer wieder dasselbe sagt, und zwar mit immer denselben Worten. Nicht die Wortwahl macht ihn von anderen unterscheidbar, sondern allenfalls sein Outfit: was für eine "Figur" er macht, wie er das geforderte Tremolo beherrscht und zu welcher "Wortgewalt", vulgo Tonhöhe, seine Stimme an den dafür vorgesehenen Stellen aufzusteigen vermag.

Geht die Gleichung also auf, erreicht die momentane, auf Verblödung abgestellte Politrede durch ewige Wiederholung ihren vollen Zweck? Nun, glücklicherweise gibt es einige Unbekannte in der Rechnung, z.B. das Ausmaß dessen, was das Publikum an Dauerphrasen zu schlucken gewillt ist, bevor es endgültig abschaltet. So wie das materielle, so hat auch das geistige Lebensniveau ein gewisses Limit, unterhalb dessen die Sache gefährlich wird, nämlich selbst der kleinste Kleinverbraucher zu bocken anfängt und sich nicht mehr alles gefallen läßt.

Revolutionen entstehen nicht immer nur aus materieller Not, sondern manchmal auch aus geistiger Langeweile. Mag sein, wir sind zur Zeit durchschnittlich immer noch eine gute Strecke von der nackten materiellen Not entfernt; die nackte geistige Langeweile hingegen, wo es nur noch wehtut, wird bald erreicht sein. Jene zwar weitgehend nur leise und im vertrauten Bekanntenkreis geäußerten Abscheureden gegen die offiziellen "Feiern" des 8. Mai waren ein ziemlich sicheres Indiz dafür. Die Leute haben die Nase voll, in Arbeiter- wie in elaborierten Intellektuellenkreisen.

Politik ist eben doch mehr als bloße "Produktverkaufe", wo es ausreicht, immer dasselbe gebetsmühlenartig zu wiederholen. Man mag es glauben oder nicht: Politik braucht, um auf Dauer erträglich zu sein, ein beträchtliches Maß an Phantasie, sowohl bei den Taten als auch und vor allem bei den Reden. Und wie reimte der in diesen Tagen so sehr gefeierte Friedrich Schiller in einem seiner prächtigsten Gedichte: "Alles wiederholt sich nur im Leben, / Ewig jung ist nur die Phantasie…"

Das Gedicht ist überschrieben: "An die Freunde". Lesen sollten es aber auch die Feinde, diesesfalls die Feinde der Phantasie, die sich gar nicht mehr vorstellen können, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt und daß man ihn kränkt und aufbringt, wenn man ihn trommelfeuerartig mit ewigen Wiederholungen eindeckt und ihm dabei sogar noch suggeriert, daß das seinem Seelenheil diene und ihn vor Bosheit bewahre. Solcher Stil wird sich rächen.

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