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Das gebotene Maß an Nüchternheit

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Das gebotene Maß an Nüchternheit

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Wie schon auf den ersten Band des deutsch-französischen Geschichtsbuchs (JF 2/07) hat es auch im Fall des nun erschienenen zweiten keine negativen oder auch nur kritischen Reaktionen gegeben. Landauf, landab war man des Lobes voll, nicht so sehr für die wissenschaftliche oder didaktische Leistung, sondern wegen der politischen Intention, der etwas ermüdeten deutsch-französischen Freundschaft neue Impulse zu geben. Immerhin darf man dieser Ausgabe von „Histoire / Geschichte“, die das lange 19. Jahrhundert – vom Wiener Kongreß bis zum Ersten Weltkrieg -, die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg behandelt, mehr Wohlwollen entgegenbringen als dem als erstes erschienenen „Abschlußband“ für die Zeit danach, der sich seit drei Jahren auf dem Markt befindet. Schwere Verzeichnungen fehlen, an vielen Stellen wird tatsächlich eine sachliche Darstellung präsentiert, das Bild- und Kartenmaterial ist vielleicht etwas üppig, aber von beeindruckender Qualität. Ambivalent bleibt der Eindruck trotzdem. Um das zu erklären, sei auf drei zentrale Themen und die Art ihrer Behandlung hingewiesen. Zum Komplex „Nation – Nationalismus“ präsentiert das Buch in bezug auf die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins während der Freiheitskriege gegen Napoleon einen Auszug aus Ernst Moritz Arndts Schrift „Über den Volkshaß“. Dieser Text wird der heutige Leser schon wegen seiner drastischen Wortwahl verstören, aber auch wegen der Forderung, den Gegner nicht nur militärisch zu bekämpfen, sondern auch das, was man später das „innere Frankreich“ nennen wird, vollständig zu vernichten und die kommende Generation in ihrer Identität zu sichern durch das Nähren unerbittlicher Ablehnung des Erbfeindes. Was man bei der Präsentation vermißt, ist nicht nur ein Hinweis auf das persönliche Schicksal Arndts, es gibt auch keine Informationen über die Aggressionen der Republik wie des Kaiserreichs gegen Deutschland oder die Härte der französischen Besatzung, die teilweise zwanzig Jahre angedauert hatte. Vor allem ist aber zu bedauern, daß die Schüler nicht zum Vergleich einen Text von Maurice Barrès kennenlernen, jenes Barden des späten französischen Nationalismus, der in der Aufstachelung von Revanchegelüsten ungleich erfolgreicher war als Arndt. Das Kapitel „Nation et nationalisme en Allemagne et en France“ wird schließlich überhaupt nur anhand zweier deutscher Texte – von Treitschke und Mommsen, bezugnehmend auf den Berliner Antisemitismusstreit – behandelt, die Illustrationen zeigen die Marianne auf der einen, das Niederwalddenkmal und das Brandenburger Tor am Sedanstag auf der anderen Seite. Fast überflüssig, zu erwähnen, daß den Autoren die Tatsache, daß Frankreich nach 1871 auf Vergeltung sann, ungleich verständlicher erscheint als der entsprechende Wunsch deutscherseits infolge des Diktats von Versailles. Hier ist bereits eine Berührung mit dem zweiten wichtigen Thema gegeben: die Außenpolitik Deutschlands und Frankreichs in dem genannten Zeitraum. Auffällig ist die Ausblendung dieses Themas für die ganze Phase, in der Frankreich versuchte, aus dem Schatten der Niederlage von 1815 herauszutreten. Nirgends findet sich eine hinreichende Erklärung des frühen französischen Imperialismus und dann der Hegemonialpolitik Napoleons III. Immerhin wird konstatiert, daß den Krieg von 1870/71 beide Seiten angestrebt hatten, und eine ähnliche Ausgewogenheit des Urteils darf man auch bei der Behandlung des Kriegsausbruchs von 1914 feststellen, die der traditionellen Auffassung vom „Hineingeschlittert-Sein“ nahekommt. Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs entspricht dagegen ganz der herrschenden Interpretation, verzichtet also auf eine genauere Ausleuchtung der diplomatischen Hintergründe des Kriegsbeginns, nennt aber mit einer gewissen Fairneß die Motive für eine „Kollaboration“ zwischen dem 1940 besiegten Frankreich und Deutschland. Dagegen ist die Präsentation der deutschen Besetzung Elsaß-Lothringens wieder ganz einseitig, und vergeblich sucht man Hinweise auf das Schicksal der Deutsch-Elsässer und Deutsch-Lothringer; wahrscheinlich ist es heute schon zu heikel, einem Jugendlichen zu erklären, wer eigentlich jener Karl Roos war, nach dem die deutsche Verwaltung – wie ein Bild des Bandes illustriert – einen Platz in Straßburg benannte. Hier wird dem pädagogischen Bedürfnis nach Vereinfachung oder dem politischen nach Beschweigen des Unerwünschten zuviel Raum gegeben, was man ähnlich auch für die Darstellung der „Säuberungen“ in Frankreich zwischen 1944 und 1947 sagen muß. Ein vorbehaltlos positives Urteil kann eigentlich nur über jenen Teil des Buches gefällt werden, der mit dessen Kern – der Geschichte Deutschlands und Frankreichs im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – gar nichts zu tun hat: die Entwicklung der Sowjetunion und des Phänomens „Totalitarismus“ überhaupt. Gegenwärtig dürfte kein Geschichtsbuch auf dem deutschen Markt sein, das so umfassend, sachlich und schonungslos diesen Zusammenhang präsentiert wie „Histoire / Geschichte“. Das ist schon etwas, aber natürlich nicht alles. Jedenfalls zeigt sich hier, daß eine sachgerechte Darstellung durchaus möglich ist, wenn sie sich nicht von ideologischen Vorgaben diktieren läßt, was man Heranwachsenden zumuten darf und was nicht. Wegen der Neigung, die UdSSR, den Warschauer Pakt und den Kommunismus in einem allzu freundlichen Licht erscheinen zu lassen, fiel das in den vergangenen dreißig Jahren hinsichtlich der östlichen Nachbarn Deutschlands schwer. Heute stehen wir vor der Aufgabe, auch in bezug auf die gemeinsame Vergangenheit mit unseren westlichen Nachbarn zu dem gebotenen Maß an Nüchternheit zu kommen. Histoire / Geschichte. Europa und die Welt von 1815-1945. Nathan Verlag, Paris und Klett Verlag Stuttgart 2008, broschiert, 384 Seiten, zahlreiche Karten, Statistiken und Abbildungen, 26,95 Euro Fotos: Wilhelm Camphausen, „Bismarck und Napoleon III. nach der Schlacht bei Sedan“, Öl auf Leinwand (1878): Der französische Wunsch nach Vergeltung erscheint den Autoren ungleich verständlicher …; William Orpen, „Die Unterzeichnung des Friedensvertrages im Spiegelsaal von Versailles“, Öl auf Leinwand (1919): … als der entsprechende Wunsch deutscherseits infolge des Versailler Diktats

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