Öffentliche Räume sind in Deutschland immer seltener Orte des freien, des angstfreien Worts. Einer dieser seltenen Momente ereignete sich vergangene Woche bei der Buchvorstellung von Sergio Romanos „Brief an einen jüdischen Freund“. Romano ist Historiker, Publizist und einer der profiliertesten Intellektuellen Italiens. Viele Jahre war er im diplomatischen Dienst tätig, unter anderem als Botschafter Italiens bei der Nato und in Moskau. Die elegante Erscheinung des 78jährigen und seine geschmeidige Eloquenz machen es leicht, ihn sich als päpstlichen Diplomaten aus der Renaissancezeit vorzustellen. Als sein Buch 1997 erschien, sorgte es in Italien für heftige Debatten. Romano unterzog die Bestrebungen, den Holocaust zu sakralisieren, und die jüdischen Entschädigungsklagen einer schneidenden Kritik. Er prognostizierte sogar, daß sie einen neuen Antisemitismus auslösen würden. Das führte in Italien keineswegs zu seiner Kaltstellung, sondern wurde als ein wichtiger Diskussionsbeitrag verstanden. Der „Brief“ erscheint nun, um drei Vorworte aus den Jahren 2002, 2004 und 2007 ergänzt (das letzte verfaßte er speziell für die deutsche Ausgabe), in deutscher Übersetzung im Berliner Landtverlag. Ort der Buchvorstellung war das Jüdische Museum in Berlin. Dessen Programmdirektorin Cilly Kuglmann nannte Romanos Thesen speziell zu Israel „empörend“, „erschütternd“, von „Ressentiments“ bestimmt. Trotzdem gewährte sie ihm im Sinne Voltaires Rede- und Gedankenfreiheit. Eine Entscheidung, die hervorgehoben werden muß! Es handelt sich um eine Sammlung thematisch aufeinander bezogener Aufsätze und Skizzen. Romano meint, daß „der Holocaust (…) zum mythischen Zentrum der Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden“ ist. Sein grausiger Charakter steht außer Frage. Romano nimmt die kanonisierte Zahl von sechs Millionen Opfer zur Grundlage und beurteilt sogar Daniel Goldhagen recht milde. Aber er meint eben auch, daß es sich um keinen der Geschichte enthobenen Vorgang handelt. Der Versuch, ihn als solchen festzuschreiben, wurzelt in keinem singulären Charakter, sondern in konkreten, identifizierbaren Interessen, die sich der Geschichtsschreibung bedienen. 150 Historiker aus allen politischen Lagern Italiens legten daher in einem Schreiben Protest ein gegen die Kodifizierung einer „staatlich verordneten historischen Wahrheit“, als der Justizminister einen Gesetzentwurf gegen die Holocaust-Leugnung ankündigte. Der Geschichtsdogmatismus dringt ein in die Kapillargefäße der Gesellschaft. Im Vorwort von 2002 formuliert Romano „den Eindruck, daß an die Stelle des Heiligen Offiziums eine jüdische Inquisition getreten ist, die den Antisemitismus in den christlichen Gesellschaften untersucht und quantifiziert, ein ständig tagendes Antisemitismustribunal, vor das weltweit jeder zitiert werden kann, von dem man Rechenschaft über seine Worte und Gefühle verlangt“. Psychologisch handle es sich um „eine Art Revanche für die im Laufe der Geschichte erlittenen Demütigungen“. Entscheidend ist indes der außenpolitische Legitimationsbedarf Israels, der „mit einer schweren Krise des zionistischen Staates korrespondiert“. Mit seiner Okkupationspolitik nach 1967 sei Israel eine „kriegerische, gebieterische, überhebliche“ Nation geworden. Damit strapaziert es seinen Kredit in der westlichen Welt, auf den es angewiesen ist. Romano zitiert den Auschwitz-Überlebenden und Schriftsteller Primo Levi, der meinte, Israel werde seinen Nachbarn in Nahost immer ähnlicher. Damit – so ließe sich der Faden fortspinnen – erodiert die Grundlage für die Sonderbeziehungen des Westens zu Israel. Der jüdische Staat ist weder als Rohstoffquelle noch als Handelspartner, Absatzmarkt oder touristisches Ziel interessant. Allein die kulturelle und geistige Verbundenheit sowie das Gefühl der moralischen Verpflichtung rechtfertigt die Sonderbeziehungen zu ihm. Wenn aber die geistig-kulturelle Gemeinsamkeit entfällt und Israel selber grundlegende moralische Standards verletzt, zerfällt ihre Basis. Um sie dauerhaft zu stabilisieren, wurde der Holocaust zum „Gegen-Gott“ (S. Romano) erhoben, vor dem alle Argumente in den Staub sinken. Für Theodor Herzl sei klar gewesen, daß die Gründung eines jüdischen Staates die Juden weltweit vor die Entscheidung stellen würde, entweder nach Israel auszuwandern oder sich in ihren jeweiligen Ländern zu assimilieren. Es ist anders gekommen. Noch immer leben mehr Juden außer- als innerhalb Israels, von denen viele eine doppelte, zumindest zusätzliche Loyalität zu Israel empfinden. Das ist insofern verständlich, als die Bereitschaft zur Assimilierung keinen Schutz vor dem Holocaust geboten hat und Israel deshalb für viele Diaspora-Juden als Garantiemacht fungiert. Das veranlaßt sie zu seiner vorbehaltlosen Unterstützung, was bis zu Versuchen geht, außen- und militärpolitische Entscheidungen ihrer Heimatländer zu beeinflussen. Der Mangel an politischer Plausibilität und demokratischer Legitimation wird durch den einschüchternden Holocaust-Verweis kompensiert, der Konflikt zwischen den Interessen des eigenen Landes und der Politik Israels im Zeichen eines höheren, universellen Wertes (scheinbar) aufgehoben. Dieses Verfahren mag Andersdenkende zum Verstummen bringen und den Diaspora-Juden Einfluß verschaffen, doch über die Gegen-Emotionen und deren Folgen sind keine Illusionen mehr statthaft. Die Auflösung des Loyalitätskonflikts wird schwierig sein, die Überwindung der Holocaust-Sakralisierung muß ihm vorausgehen. Die Konfliktlinien in dieser Frage verlaufen nicht einfach zwischen Juden und Nicht-Juden. Der Holocaust ist „das Terrain, auf dem Juden und Linke sich über sonstige Differenzen hinweg verständigen und zusammenarbeiten können. Für die Juden ist die mahnende Erinnerung an die nationalsozialistischen Greueltaten ein Schutz gegen zukünftige Verfolgungen. Für die Linke ist sie der ‚Beweis‘ dafür, daß (…) der Faschismus auf lange Sicht eine gefährliche Möglichkeit der Menschheit bleibt. Den Juden erlaubt die Erinnerung, eine Art antirassistische Dauerüberwachung zu unterhalten. Den Linken erlaubt sie, eine Art Volksfront (…) zu betreiben.“ Dieser Zustand ist dauerhaft nur um den Preis des Ausnahmezustands zu haben, so oder so. Romano schreibt: „In der Art und Weise, in der man an (den Holocaust) erinnert und seiner Opfer gedenkt, schwingt die Überzeugung mit, der Holocaust sei weit mehr als ein geschichtliches Faktum: Nämlich, er sei die gemeinsame Schuld ganzer Nationen und Religionen. Doch gerade in dieser Vorstellung einer ‚Kollektivschuld‘ verbirgt sich einer der gefährlichsten Ursprünge rassistischer Phänomene. Der Rassismus beginnt dort, wo jemand behauptet, die Verantwortung für ein bestimmtes Ereignis laste auf den Schultern eines ganzen Volkes. Und früher oder später ruft jede Verallgemeinerung eine nicht minder radikale und ausschließende Reaktion hervor.“ Während der Buchvorstellung am 15. Oktober hat Romano seine Aussagen rhetorisch zugespitzt. Leider war der als Widerpart geladene Historiker Wolfgang Schieder außerstande, seine Rolle auszufüllen, er verzettelte sich in Details. Als Romano bestritt, daß der Holocaust einen „Zivilisationsbruch“ darstelle, weil er aus der Geschichte der Zivilisation heraus erklärbar sei, hätte man sich eine Erwiderung des Historikers Dan Diner gewünscht, der diesen Begriff kreiert hat („Hohepriester der Holocaust-Religion“, JUNGE FREIHEIT 5/07). Die Holocaust-Sakralisierung hat laut Romano zu einem „Wettlauf der Opfergruppen“ geführt. So hat die armenische Lobby in den USA gerade erreicht, daß ein Kongreß-Ausschuß die Tötung ihrer Volksangehörigen durch die Türken während des Ersten Weltkriegs als Völkermord einstufte. Warum wird ausgerechnet der Holocaust hervorgehoben? Romano umriß drei Gründe: Erstens handelt es sich um eine Folge der 68er Studentenbewegung, die gegen die Autorität der Väter rebellierte und ihr den Prozeß machen wollte. Der Holocaust sei dafür die wirksamste Handhabe gewesen – nicht nur in Deutschland, auch Frankreich habe sich vom Land der Résistance in das der Kollaboration verwandelt. Zweitens wurde im Umfeld des Sechs-Tage-Kriegs 1967 von Israel und seinen Unterstützern massiv die Möglichkeit eines neuen Holocaust beschworen. Bis heute werde die tatsächliche Gefahr überhöht, um die Okkupation und die Errichtung eines „Groß-Israel“ zu rechtfertigen. Der dritte Grund ist die Ausdehnung der Wirksamkeit von US-Gesetzen über das amerikanische Territorium hinaus. Dadurch werden Sammelklagen gegen europäische Staaten vor US-Gerichten möglich und diese durch die Erfolgsbeteiligung von Anwälten (Romano sprach von „joint ventures“) zusätzlich lukrativ. Die „Hohepriester des Völkermordes“ handeln nicht nur aus immateriellen Gründen, was ihre Macht noch besorgniserregender mache. Romanos Buch trifft auch in Deutschland den Zentralnerv. In der aktuellen Nummer des Merkur hat der Althistoriker Egon Flaig einen zornigen Aufsatz über das Unvergleichlichkeits-Dogma veröffentlicht. Dieses „Denkverbot ist schlimmer als der terroristische Sturmlauf fanatisierter muslimischer Massen gegen die dänischen Karikaturen. Dieser kostete siebzig Menschen das Leben. Aber jenes umzäunt nicht bloß ein beträchtliches Gelände des 20. Jahrhunderts mit einem Tabu, es zur intellektuellen Sperrzone erklärend, in der die Hohenpriester des Hyperabsoluten warnungslos moralische Todesschüsse abgeben dürfen. Es entlegitimiert eine Grundoperation des begrifflichen Denkens und verfemt ihre nur dem Begriff verpflichtete Anwendung.“ Als Hauptzerstörer der geistigen Freiheit macht er die Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel namentlich. Flaigs Wutausbruch zeigt, daß die Demütigung und der Selbstekel, in die frei denkende Menschen durch das Dogma und seine Propagandisten getrieben werden, einen Grad erreicht haben, der nur noch zwei Alternativen zuläßt: entweder die politische, moralische und intellektuelle Selbstabschaffung oder die beherzte Abschaffung des auferlegten Tabus! Romanos Buch bietet das allgemeinverständliche Rüstzeug für die zweite Möglichkeit. Fotos: Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: Holocaust-Sakralisierung führt zum „Wettlauf der Opfergruppen“; Buchautor Sergio Romano