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Mehr Nation wagen!

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Cato, Palmer, Exklusiv

Ralf Dahrendorf hat das 20. das „sozialdemokratische Jahrhundert“ genannt und mit dessen Ende auch das Ende sozialdemokratischer Politik prophezeit. Die Ursachen sah er im Verschwinden der Arbeiterschaft als Trägergruppe, in der Erfüllung wichtiger politischer Forderungen der Sozialdemokratie mittels staatlicher Fürsorge und in der Übernahme sozialdemokratischer Positionen durch alle einflußreichen Parteien. Dieser Anschauung ist ein gewisses Recht nicht zu bestreiten, wohl aber dem Optimismus, der dem Gedanken dialektischer Aufhebung zugrunde liegt. Tatsächlich geht der Bedeutungsverlust der SPD viel stärker darauf zurück, daß ihr schon lange die Leitidee abhanden gekommen ist. Die Sozialdemokratie bildet zwar einen wichtigen Teil des politischen Systems und besitzt Macht und Einfluß, aber sie gleicht der Union spiegelbildlich in bezug auf rapiden Mitgliederverlust und Wählerschwund, das Fehlen von Führungsreserven und Weltanschauungsschwäche. Um ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, hatte sie Ende der fünfziger Jahre vielem – dem Marxismus, der Planwirtschaft, der „Ohne mich“-Haltung – abgeschworen, aber der Plan, sich als moderne linke Volkspartei neu zu erfinden, war nur zu verwirklichen, indem man auf Deutlichkeit verzichtete. Das fiel zuerst nicht schwer. Da durfte man auf den technokratischen und dann auf den linken Zeitgeist vertrauen, übernahm ein bißchen Planungseuphorie hier und einiges aus dem Reservoir der APO dort, hielt den alten Machtfaktor Gewerkschaften, baute einen weiteren in der Administration auf und betrieb sonst die systematische Einflußnahme auf Meinungsbildung und Sinnvermittlung. Bei den Debatten um „Neue Ostpolitik“ oder Sozialisierung, „Chancengleichheit“ oder „Berufsverbote“, um Atomenergie oder Nachrüstung wurden zwar Bruchlinien in der Partei erkennbar, aber die legendäre Troika – Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt – hielt sie zusammen. Die oft verlangte und immer wieder diskutierte programmatische „Erneuerung“ der Sozialdemokratie brachte sie aber nicht zustande, und die blieb auch aus nach dem Wechsel in die Opposition. Die Leerstelle wäre vielleicht unbemerkt geblieben, wenn nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion und dann der Prozeß der Wiedervereinigung zu Stellungnahmen gezwungen hätten. Für einen Moment schien da die Möglichkeit einer nationalen Linken auf. Intellektuelle aus dem Nachrang der SPD (Brigitte Seebacher-Brandt, Tilman Fichter) fürchteten jedenfalls, man könne sich der antipatriotischen Linie und des Liebäugelns mit den kommunistischen Staatsparteien deutlicher erinnern und die Methoden der Vergangenheitsbewältigung nun auf die Linke übertragen. Vor allem aber wirkte der Zusammenhang zwischen Nation und Demokratie unbestreitbar. Das Zeitfenster, in dem eine so gewendete Sozialdemokratie denkbar war, schloß sich aber rasch, und alsbald fiel man in schlechte alte Gewohnheiten zurück. So blieb als ideologischer Zusammenhalt nur ein Wiederaufguß: Egalitarismus, „Westernisierung“, Multikulturalismus, Antifaschismus. Zweifelsohne läßt sich damit ein bestimmtes politisches Marktsegment bedienen, aber nur solange niemand ein attraktiveres, weil weitergehendes Angebote macht. Der Aufstieg der SED-PDS-Linken ist wesentlich darauf zurückzuführen, daß sie die Angebotslücke erkannt hat und zu nutzen entschlossen ist. Daher das krampfhafte Bemühen der SPD, von dieser nicht überboten zu werden, und das rein Taktische der Abgrenzung, daher das ziellose Agieren in der Großen Koalition, der Verschleiß an Parteivorsitzenden, die jüngste Kontroverse zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering, das Zähneknirschen bei der Befürwortung von Globalisierung und bewaffnet-humanitären Maßnahmen, die halb widerwillige, halb sehnsüchtige Erinnerung an Gerhard Schröders „Basta!“, die Skepsis gegenüber „weichen“ Themen, die Irritation über das Lumpenproletariat neuen Typs und die zweifelhafte Loyalität der Eingebürgerten. Die SPD wird erkennbar von ihrem linken Gegner getrieben, und ihr antifaschistischer Furor speist sich aus dem Willen, zumindest auf dem Feld der Symbolpolitik keine Überbietung zuzulassen. In der Perspektive der Sozialdemokratie ist die NPD zudem ein Problem der Bürgerlichen und hat mit ihr selbst nichts zu tun. Dabei wäre zu fragen, ob nicht ein Teil der Wählerschaft, der auf das Spiel der NPD mit den Begriffen „Nation“ und „Sozialismus“ anspricht, zur natürlichen Klientel der SPD gerechnet werden könnte, wenn diese nicht so entschlossen vaterlandslos wäre. Hier ist die gesamtstaatliche Verantwortung der Partei berührt. Ihr erster Vorsitzender in der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher, hatte zu den „Jungen“ der Weimarer Jahre gehört und die Mitschuld der Sozialdemokraten am Untergang der Republik niemals vergessen. Die war nicht einfach durch eine Verschwörung von Hitler und Großkapital zerstört worden, sondern auch durch das Versagen der eigenen Partei, die es versäumt hatte, den Kampf gegen Versailles mit jener Energie zu führen, die das Volk erwarten durfte, wenn der neue Staat als legitime nationale Ordnung erscheinen sollte. Zu den Fatalitäten der Parteigeschichte gehörte, daß Schumacher mit solcher Einschätzung schon alleine stand, denn die besten seiner Generation, Männer wie Julius Leber oder Carlo Mierendorff, hatten die NS-Zeit nicht überlebt, und die Vehemenz, mit der er die Kommunisten als „rotlackierte Nazis“ angriff und für die Wiedervereinigung eintrat, schmeckte den vielen in seiner Partei nicht, die nach Möglichkeiten des Arrangements mit den neuen Verhältnissen suchten. Sie verkannten indes, daß Schumachers Auffassung vom notwendigen Ausgleich zwischen Nation und sozialer Gerechtigkeit mehr war als ein von den Umständen der Zwischenkriegsjahre diktiertes Konzept. Dahrendorfs eingangs erwähntes Diktum ist mit der Vorstellung verknüpft, daß auf das „sozialdemokratische“ 20. Jahrhundert ein „(neo)liberales“ 21. folgt – nichts unwahrscheinlicher als das. Die Massengesellschaften werden zukünftig wieder vor im weitesten Sinne „sozialen“ Herausforderungen stehen, bei deren Beantwortung es immer nur um das „Wie“ gehen kann, nicht um das „Ob“. Der Bezug auf die Nation ist dabei so naheliegend, daß ihn irgendwann jemand aufgreifen muß. Mit der SPD ist für den Fall wohl nicht zu rechnen.

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