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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Die Schmidt muß weg“

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Alle Spritzen stehen still, wenn dein starker Arm es will“, skandieren sie immer und immer wieder. Schätzungsweise 22.000 Ärzte – so viele wie noch nie zuvor – ziehen protestierend durch Berlin-Mitte, vom Tiergarten über den Potsdamer Platz zum Gesundheitsministerium in der Wilhelmstraße. Und weil diese kommunistisch klingende Losung schlecht zum freien Beruf des Mediziners paßt, machen sie ihrem Ärger über die Bundesgesundheitsministerin auch noch damit Luft: „Eins, zwei, drei und vier – heute demonstrieren wir. Fünf, sechs, sieben, acht – die Schmidt wird heut‘ plattgemacht.“ Schon bei der Kundgebung im Ballsaal eines völlig überfüllten Hotels waren die Aussagen an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, sprach sich in seiner Rede gegen „unbezahlte Mehrarbeit“ und „unmenschliche Arbeitsbedingungen“ aus. Hoppe geißelte die „staatliche Geiz-ist-geil-Mentalität“ und kritisierte (geplante) „staatlich verordnete Dumpingsätze für privatärztlich erbrachte Leistungen“. Schon heute könnten viele Praxisärzte ihren Betrieb nur deshalb aufrechterhalten, weil sie neben den Kassen- auch lukrative Privatpatienten behandelten. Ein anderer Redner forderte Angela Merkel auf, ihre Richtlinienkompetenz endlich gegen die mißliebige SPD-Gesundheitsministerin auszuüben. Die Bundeskanzlerin sei mit Bush und Putin fertiggeworden, rief er den erbosten Ärzten zu. Dann könne Merkel ja wohl mit Schmidt fertigwerden. „Schmidt muß weg“, lautete die Parole des Tages. Die Demonstration in Berlin war, begleitet von Protesten in München (3.000 Teilnehmer) und Saarbrücken (3.500), der Höhepunkt einer Protestwoche niedergelassener Ärzte. In den kommenden Wochen legt die Große Koalition ihre Eckpunkte für die nächste Gesundheitsreform fest. Vor diesem Hintergrund machten sie auf ihre Anliegen aufmerksam, um nicht von den Politikern, der „Pharma-Lobby“, den „Kassenbürokraten“ und den Krankenhausbetreibern ausgebootet zu werden. Konkret richtete sich der Protest gegen das Arzneimittelsparpaket. Es sieht vor, daß Ärzte künftig bestraft werden, die zu viele Medikamente verschreiben. Wer dagegen wenige oder billige Medikamente verschreibt, der wird belohnt. Warum aber haben Ärzte in der Vergangenheit mehr Medikamente verschrieben, als für die Gesundung des Patienten notwendig war? Das lag an den Regelungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die etwa 90 Prozent der Bevölkerung erfaßt. Bisher war es für den Arzt unerheblich, ob er ob er eine kleine oder eine große Packung, zwei, drei oder vier Präparate verschreibt. Schließlich zahlte die Krankenkasse – und damit der GKV-Versicherte – die Rechnung. Genauso dachte der Patient und ließ nicht selten große Packungen lieber zu Hause im Medikamentenschrank verrotten, statt zweimal den Arzt wegen eines kleineren Rezepts aufzusuchen. Dann begann die Pharmaindustrie Ärzte auch noch damit zu locken, daß sie (offen oder geschickt versteckt) Provisionen ausschüttete. So berichtete erst in der vergangenen Woche ein ARD-Magazin darüber, daß allein in Berlin 1.000 Praxen identifiziert worden seien, die Provisionen als Gegenleistungen für Verschreibungen entgegengenommen hätten. Da die Patienten über einen Festbeitrag hinaus nicht an den Kosten für ihre Medikamente beteiligt werden, achten sie auch nicht darauf, wer ihnen wieviel wovon verschreibt. Letztlich zahlt es ja die „Kasse“. Wegen der exorbitant steigenden Kosten für Medikamente aber blieb für die Honorierung der Leistung der Ärzte immer weniger übrig. Hinzu kommt, daß die Abrechnung mit der GKV-Kasse nicht direkt in Euro und Cent erfolgt, sondern über die Kassenärztlichen Vereinigungen (KBV) nach einem abstrakten Punktesystem, bei dem vorher jedoch niemand weiß, wieviel ein Punkt am Ende wert sein wird. Nur wenige Experten durchschauen dieses System des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) überhaupt. Die Unzufriedenheit der Ärzte läßt sich jedoch sehr gut in Zahlen fassen: Sollte ein EBM-Punkt ursprünglich 5,11 Cent ausmachen, so sind dies derzeit nur noch rund drei Cent – je nach Bundesland übrigens unterschiedlich. Die Abschaffung der „EBM-Währung“ stand daher im Forderungskatalog der Hausärzte ganz weit oben. Viele niedergelassene Ärzte sind deswegen in Schwierigkeiten gekommen, können ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. „Jede siebte bis achte Praxis steht derzeit unter dem Bankkuratel, das heißt unter Bankaufsicht“, sagte ein Sprecher der Bundesärztekammer im Vorfeld der Demonstration. Gerade in der mitteldeutschen Provinz wird es daher immer unattraktiver, eine Praxis zu betreiben, denn hier sind die Honorare für Ärzte 20 Prozent niedriger als in West-Ländern (JF 46/05). Das bedeutet auch für die Patienten eine mitunter dramatische Verschlechterung ihrer Lebenssituation, wenn sie nicht mehr wohnortnah medizinisch versorgt werden können. Die große Welle der Praxisschließungen kommt auch erst noch auf die Patienten zu, wenn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge demnächst ins Rentenalter kommen. Neben den Betriebsschließungen gibt es noch den Trend der Ärzteflucht. Immer mehr Deutsche gehen ins Ausland – Großbritannien und Norwegen sind derzeit sehr begehrt -, weil sie dort bessere Verdienstmöglichkeiten haben. Es gibt etwa 100.000 niedergelassene Ärzte in Deutschland. Eine Umfrage der kassenärztlichen Vereinigung unter ihnen hat ergeben, daß sie mit bis zu zwanzig Prozent Personalabbau rechnen, falls sich die Situation in diesem Jahr nicht verbessert. Viele Arzthelferinnen müßten sich bereits mit Minijobs über Wasser halten, weil sie so schlecht bezahlt würden, klagte eine Vertreterin der 500.000 Arzthelferinnen auf der Abschlußkundgebung vor dem Dienstsitz von Ulla Schmidt. Begleitet war die Ärztedemo von einer oft kritischen Berichterstattung in den Medien, die teilweise fast als Neidkampagne einzuordnen ist. 200.000 Euro betrage der jährliche Durchschnittsumsatz einer Praxis, meldete aufgeregt Die Zeit. „Kein Grund zum Streiken“, befand das Blatt. „Unhaltbar und peinlich“, giftete die taz über die Proteste. Solidarisch zeigten sich hingegen zwei ansonsten selten Einige: die FDP und die Linkspartei. Ärzte-Demonstration in Berlin: „Jede siebte bis achte Praxis steht derzeit unter dem Bankkuratel“ foto: ronald gläser

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