Tausende Moskauer haben am Montag der Toten des verheerenden Terroranschlags in der Moskauer U-Bahn gedacht, bei dem am 6. Februar mindestens 40 Menschen getötet und über 130 verletzt wurden. In den Kirchen wurden Messen zu Ehren der Ermordeten abgehalten, an staatlichen Gebäuden war halbmast geflaggt, Unterhaltungssendungen und Komödien fielen aus. Der Eingang der betroffenen U-Bahn-Station Awtosawodskaja war mit Blumen übersät. Angesichts dieser Tragöde trat in den Hintergrund, daß die staatliche Wahlkommission vergangenen Sonntag sieben Kandidaten für die russische Präsidentenwahl registriert hat. Neben dem Amtsinhaber treten der kommunistische Duma-Abgeordnete Nikolai Charitonow, der Putin-nahe Vorsitzende des Föderationsrates, Sergej Mironow, und der Ex-Präsident Boris Jelzin eng verbundene ehemalige Duma-Vorsitzende Iwan Rybkin bei den Wahlen an. Der Chef der nationalpopulistischen Liberaldemokraten (LDPR), Wladimir Schirinowski, tritt 2004 nicht selbst an, sondern stellte seinen Ex-Leibwächter Oleg Malyschkin auf, der einen „Cocktail aus Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen und Stalin“ darstelle – so Schirinowski über Malyschkin. Kurz vor Ablauf der Bewerbungsfrist am Sonntag ließen sich auch noch die liberale Politikerin Irina Chakamada und der linksnationale Wirtschaftsprofessor Sergej Glasjew registrieren. Dabei sah es zunächst so aus, als würde der amtierende Präsident Wladimir Putin am 14. März ohne ernsthafte Konkurrenz bleiben. Die aus den Duma-Wahlen geschwächt hervorgegangenen Kommunisten zogen ihren zunächst benannten Parteivorsitzenden Gennadi Sjuganow ebenso zurück wie die LDPR ihren Chef Schirinowski. Mironow, der Chef des (mit dem Deutschen Bundesrat vergleichbaren) russischen Föderationsrates, fand die Situation so fatal, daß er seine eigene Kandidatur anmeldete. Eigentlich, so Mironow, wolle er gar nicht Präsident werden, er trete nur an, damit die Wahlen nicht zur Farce werden. Inzwischen treten aber doch immerhin sechs Kandidaten gegen den 52jährigen Putin an. Bis Dienstag sah es zeitweise nur nach fünf aus, denn seit Donnerstag letzter Woche fehlte von Rybkin jede Spur. Am Montag eröffnete die Staatsanwaltschaft des Moskauer Stadtbezirkes Presnenskaja sogar kurzzeitig ein Mordverfahren, um mehr Möglichkeiten bei der Fahndung nach dem Verschollenen zu haben. Es wurde spekuliert, daß das „Verschwinden“ Rybkins habe mit dessen Beziehungen zum dem im englischen Exil lebenden „Oligarchen“ Boris Beresowski zu tun; er sei Opfer einer Intrige in seiner Partei Liberales Rußland oder sogar Ziel eines Anschlags der Geheimdienste geworden. Dabei hatte Rybkin lediglich in Kiew Freunde besucht und sein Mobiltelefon ausgeschalten. Trotz seiner finanziellen Möglichkeiten gilt Rybkin jedoch gegen Putin als chancenlos -bekannt ist er nun aber allemal. Während die KP mit dem „Ex-Agrarier“ Charitonow und die LDPR mit dem Box-Champion Malyschkin wenig aussichtsreiche Kandidaten aufgestellt haben, unterstützt die bei den Duma-Wahlen am 7. Dezember 2003 stärkste Partei Vereintes Rußland (37,1 Prozent) die Wiederwahl Putins. Offenbar will kein führender Politiker der drei großen Duma-Parteien (KP: 12,7 Prozent, LDPR: 11,6 Prozent) gegen Putin kandidieren. Die einzige Gruppierung, die eine Fraktion in Duma hat und gleichzeitig einen prominenten Kandidaten aufstellt, ist das Wahlbündnis Rodina (Heimat) mit dem 43jährigen Ex-Kommunisten Sergej Glasjew, der korrespondierendes Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften ist. Auf Anhieb gewann Rodina bei der Duma-Wahl 9,1 Prozent der Stimmen – indem sie den Kampf gegen die Oligarchen ins Zentrum des Wahlkampfes stellte und verlangte, „den Wohlstand zurück an das Volk“ zu geben und sich für eine „Naturrente“ aussprach. Damit ist gemeint, daß die Unternehmen, die von der Erschließung der Rohstoffvorkommen profitieren, für die Nutzung dieser Bodenschätze eine Abgabe zahlen sollen. Allerdings gibt es seit Januar bei Rodina Streit um eine Unterstützung Glasjews. Daher hat Glasjew inzwischen die Nationalpatriotische Union Heimat gegründet, die seine Kandidatur unterstützt. Damit wird Glasjew noch deutlichere „nationalpatriotische“ Akzente setzen. Glasjew, Charitonow und Malyschkin brauchten für ihre Kandidatur keine Unterschriften zu sammeln, da sie aus der Duma angehörenden Parteien kommen. Die anderen Kandidaten müssen der Zentralen Wahlkommission nachweisen, daß ihre Kandidatur von wenigstens zwei Millionen Wahlbürgern der Russischen Föderation unterstützt wird. Hierbei gab es Probleme mit dem verschwundenen Rybkin, dessen Unterschriftenlisten nicht ganz korrekt gewesen sein sollen. Selbst Putin, der sich von keiner Partei hat aufstellen lassen, sondern als Einzelkandidat antritt, hat 2,5 Millionen Unterschriften bei der Wahlkommission eingereicht. In seinem Wahlprogramm verspricht der Präsident eine Verdoppelung des Bruttosozialprodukts in seiner zweiten Amtszeit. „Viele Russen“, so Putin, „leben unter der Armutsgrenze … das ist beschämend für Rußland“. Er kündigte an, die Ölindustrie mit einer Gewinnsteuer zu belegen. In einer Rede vor der Generalstaatsanwaltschaft forderte er einen stärkeren Kampf gegen die Korruption im Lande. Durch vermehrte Unterstützung der Klein-und Mittelunternehmer solle die Armut reduziert werden. Es ist offensichtlich, daß die Konzepte von Putin und Glasjew sich berühren. Als erklärte Putin-Gegnerin präsentiert sich hingegen Irina Chakamada. Ob sie die angestrebten sieben Prozent erreicht, ist fraglich. Ihre eigene – bei den Duma-Wahlen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterte – Partei Union der rechten Kräfte (SPS) von Anatolij Tschubais (Ex-Vizepremier und heute Chef des Strommonopolisten EES Rossij) und Boris Nemzow (Ex-Vizepremier unter Jelzin) unterstützt ihre Kandidatur nicht. Auch betreibt die 48jährige Hochschuldozentin ihren Wahlkampf nicht mit einem neoliberalem Programm – was man von der Ökonomin hätte erwarten können -, sondern mit wüsten Anwürfen gegen Putin. Dieser würde die Wahrheit und die eigene Verantwortung über die Todesumstände der Geiseln bei der Erstürmung des Musical-Theaters Nordost im Herbst 2002 verschleiern. Inhaltlich hat sich damit die politische Auseinandersetzung auf die Konkurrenten Putin und Glasjew verlagert. Letzterer hütet sich bisher Putin direkt anzugreifen, aber er stellt die gleichen Fragen wie Putin, nur schärfer, und ist in den Schlußfolgerungen konsequenter bzw. radikaler. Im Grunde spiegelt sich der Duma-Wahlkampf erneut in den jetzigen Präsidentenwahlen wider: Rußland geht seinen eigenen Weg. Man mag das „gelenkte Demokratie“ nennen, wie in einem Artikel des USA-Außenministers Colin Powell in der Iswestija vom 28. Januar zu lesen war. Was ist „gelenkte Demokratie“? Mit Powell kann man zunächst sagen: Auch das ist eine Form der Demokratie. Aber ganz offensichtlich versteht Putin darunter, daß die Instrumente der Marktwirtschaft und des Rechtsstaates so genutzt werden müssen, daß im Lande Stabilität, Ruhe und Ordnung herrscht und Rußland seine Wiedergeburt als euro-asiatische Großmacht erlebt. Bei Putin kulminieren diese Überlegungen in einem starken Staat. Damit entspricht Putin einer weitverbreiteten Stimmung in Rußland. Das heißt , daß er mit diesem Konzept auch die Wahlen gewinnen wird. Allerdings muß er darauf achten, daß die Wähler diesen Sieg nicht so sicher sehen, daß sie gar nicht zur Wahl gehen. Denn wenn die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent bleibt (zur Duma-Wahl nur etwas über 52 Prozent), ist die Wahl ungültig. Alle jene Kandidaten, ob Glasjew oder Chakamada, kämpfen also, wenn sie für ihre Kandidatur kämpfen, gleichzeitig – ob sie wollen oder nicht – dafür, daß die Wahl gültig ist, und das heißt auch: daß die Wahl Putins gültig ist. Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch „Wladimir W. Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?“.
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