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Altes Europa, Neues Europa

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Ich spreche nicht gerne von einem „Alten Europa“ und einem „Neuen Europa“. Für mich ist Europa einfach Europa – endlich wieder vereinigt und frei. Die vielen Rückschläge des Glücks und der Umstände, die im Laufe der Geschichte des Kontinents geschehen sind, können in erster Linie einer Tatsache zugeschrieben werden: Die Europäer waren in bestimmten Situationen nicht immer aufmerksam genug – in Situationen, in denen Sprache doppeldeutig wird, anfangs noch ganz harmlos, aber dann immer stärker. Wenn so etwas zu einer Zeit passiert, in der die eine oder andere politische Macht gekonnt das Wort an sich reißt und es zu einem Mittel ihrer selbstsüchtigen Interessen macht, dann stehen Europa harte Zeiten bevor. Immer wenn ich höre, daß Leute vom Neuen im Gegensatz zum Alten Europa reden, höre ich einen qualitativen Vergleich heraus, der mir nicht gefällt. Er ist ambivalent und verwirrt mich, denn die Worte „neu“ und „alt“ tragen sowohl eine positive als auch eine negative Bedeutung. Diese Bedeutung wird oft erst im Kontext deutlich und ist vom jeweiligen Wertesystem abhängig. Lettlands berühmtester Dichter, Dramatiker und Denker, Rainis, sah das Wort „neu“ als ein Symbol für Entwicklung und Kreativität. Er spricht von „neuer Stärke“, „neuem Denken“ und „der neuen Ära“, während er immer die positiven Aspekte dieses Konzepts im Vergleich zu dem alten betonte. Die Traditionen der Chinesen und vieler anderer Nationen dagegen halten das Alte für wichtiger; ein junger Mensch ist nicht weise, ein alter dagegen ausgeglichen und standhaft durch die Weisheit seiner Erfahrungen. Als sich der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in der Hitze des Irak-Kriegs dazu entschied, das Neue Europa mit dem Alten Europa zu vergleichen, stieß er damit viele Europäer vor den Kopf. Ähnlichen Unmut löste auch der französische Präsident Jacques Chirac aus, als er sich so sehr von den Kämpfen der politischen Giganten mitreißen ließ, daß er das Neue Europa aufforderte, einfach den Mund zu halten. In beiden Fällen haben diese groben Äußerungen nur bestätigt, daß die Sprache Europas niemals einen solchen Kontrast enthalten darf. So etwas müssen wir mit dem 20. Jahrhundert hinter uns lassen. Im neuen Jahrhundert muß uns die Sprache verbinden, sie muß Eintracht fördern und ausgewogen sein. Unter den vielfältigen Formen der Geschichtsschreibung, die sich im 20. Jahrhundert entwickelten haben, ist eine besonders bemerkenswert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Europa vom Eisernen Vorhang in zwei Hälften geschnitten, was nicht nur die Menschen Osteuropas versklavte, sondern auch deren Geschichte aus der Gesamtgeschichte des Kontinents ausradierte. Europa hatte sich gerade von der Geißel des Nationalsozialismus befreit; und nach dem Blutvergießen des Krieges war es wohl verständlich, daß nur wenige Leute die Stärke hatten, der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken – insbesondere der Tatsache, daß der Terror in halb Europa weiterging, wo hinter dem Eisernen Vorhang das Sowjetregime weiter einen Genozid an den Völkern Osteuropas und sogar am eigenen Volk verübte. Über 50 Jahre ist die Geschichte Europas ohne unser Mitwirken geschrieben worden, und die Geschichtsschreibung der Sieger des Zweiten Weltkrieges hat, wie typisch, jeden nach Gut und Böse, Korrekt und Inkorrekt eingeteilt. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten der Opfer. Diese bestätigen, daß beide totalitären Systeme – Nationalsozialismus und Kommunismus – gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Abstufung zwischen diesen beiden Philosophien geben, nur weil die eine von ihnen auf der Seite der Sieger stand. Ihr Kampf gegen den Faschismus kann nicht als etwas betrachtet werden, das die Sünden der Sowjetunion, die zahllose Unschuldige im Namen der Klassenideologie unterdrückte, für immer entschuldigt. Ich bin fest überzeugt, daß es die Pflicht unserer Generation ist, diesen Fehler rückgängig zu machen. Auch die Verlierer müssen ihre Geschichte schreiben, weil diese einen festen Platz in der Gesamtgeschichte des Kontinents verdient hat. Andernfalls wird diese einseitig bleiben, unvollständig und unehrlich. Ich habe über meine Pflicht gegenüber der geschichtlichen Wahrheit nachgedacht, während ich das Buch „Mit Ballettschuhen im Schnee Sibiriens“ schrieb. Das Buch beschreibt die Qualen der Deportation meiner Familie. Die erschütternde Tatsache ist, daß meine Familie keinesfalls eine Ausnahme war. Es gibt in Lettland nicht eine einzige Familie, die keine Geschichten von Sibirien erzählen kann, von Verwandten, die in der weiten, öden Kälte dieses Teils von Rußland spurlos verschwunden sind. Die Berichte sind alle sehr ähnlich, nur mit anderen Personen. Die Zeit der Deportationen, die Orte, wo man die Menschen hinschickte, das Leiden, die absolute Abwesenheit jeglicher Ordnung und Gerechtigkeit – das alles bleibt gleich. Die jüngere Geschichte des östlichen Europas, das zusammen mit uns Letten zum europäischen Kontinent zurückkehrt, ist genauso dramatisch. Wir dürfen nicht zulassen, daß so etwas jemals wieder geschieht. Getragen von diesem Gedanken, glaube ich daran, daß es kein Neues oder Altes Europa geben wird. Wir haben ein einziges und wiedervereintes Europa, in dem jeder Mensch den gleichen Wert hat. Sandra Kalniete war lettische Außenministerin und ist designierte EU-Kommissarin. Die Übersetzung ihrer Rede besorgte Sarah Schaschek. Lesen Sie hierzu auch den Beitrag von Doris Neujahr auf der Seite 11. Foto: Menschenkette: Hunderttausende bildeten am 23. August 1989 eine 600 Kilometer lange Menschenkette durch die drei baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, um für ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Es war der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes.

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