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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Verjüngungskur für Europa

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Die Europäische Union wird demnächst mit der Türkei Beitrittsverhandlungen führen. Nachdem Ankara auch den Popanz des jüngsten Strafgesetzentwurfs lächelnd in die Schublade gepackt hat, um Erweiterungskommissar Günter Verheugen wieder einmal einen werbewirksamen Gefallen zu tun, könnte nur noch ein islamistischer Staatsstreich verhindert, daß der Europäische Rat im Dezember einen positiven Beschluß faßt. Mit der Zuerkennung des Status eines Beitrittskandidaten auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen 2002, so erinnert der bayerische Jurist und Staatsminister a. D. Reinhold Bocklet (CSU), habe der Prozeß der Eingliederung der Türkei in den Westen nahezu seinen institutionellen Endpunkt erreicht (Zeitschrift für Politik, 2/04). Gleichwohl bleibe offen, ob der von Kemal Atatürk forcierte Umbau der Reste des Osmanischen Reiches, vor allem die zeitweise nur mühsam bewahrte Trennung von Staat und Religion, in einer pluralistischen Demokratie westlicher Prägung vor der Entscheidung der türkischen Wählermassen Bestand haben werde. Weichenstellung ohne vorangegangene Debatte Daß es überhaupt dazu gekommen ist, in der Türkei mittelfristig ein neues EU-Mitglied begrüßen zu müssen, sei, so Bocklet, auf dem EU-Gipfel in Helsinki (1999) eine Weichenstellung gewesen, die „ohne vorangegangene Debatte und ohne Aussprache unter den Gipfelteilnehmern zustande“ kam. Der Druck der USA, die Bereitschaft des deutschen Duos Schröder/Fischer, ihm nachzugeben, der schwindende Widerstand Griechenlands, die Neubewertung des geopolitischen Gewichts der Türkei – dies seien wichtige Faktoren gewesen, die zur Blitzentscheidung von Helsinki geführt hätten. Entsprechend schnell reagierte die politische Klasse in Ankara, um mit „Reformen“ jenen Eindruck institutioneller Stabilität zu vermitteln, der Brüsseler Ratsgewaltigen als Garantie für die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung, Minderheitenschutz und die Wahrung der Menschenrechte zwischen Bosporus und Kurdistan auszureichen scheint. Neben diesen politischen Aspekten, die für die Türkei nicht mehr als Bremsklotz wirken und daher heute schon nur noch für Historiker von Belang sind, macht Bocklet auf ökonomische und gesellschaftlich-kulturelle Hindernisse aufmerksam, deren Mißachtung in einer positiven Entscheidung sich langfristig bitter rächen werde. Schon mit der ersten Osterweiterung, der mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien eine zweite folgen soll, habe die EU die Schwelle von einer Wirtschaftsgemeinschaft wohlhabender Industrienationen zu einer „Wirtschafts- und Entwicklungsgemeinschaft mit einer beachtlichen Zahl von Schwellenländern“ offenbar bedenkenlos überschritten. Die Osterweiterung habe bereits die Machtverhältnisse zugunsten dieser Kohäsionsländer so weit verschoben, daß sie in Anbetracht ihrer geringen Wirtschaftskraft „unverhältnismäßig viel Einfluß“ gewönnen. Bei den unausbleiblichen Verteilungskämpfen werde es darum „zur legitimatorischen Aushöhlung der EU“ kommen, die schließlich Brüssels Integrationskraft erschöpfen müsse. Vor diesem realistischen Krisenszenario fänden die Vorbereitungen zur Aufnahme der Türkei statt. Werner Gumpel, emeritierter Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas an der Universität München, sekundiert Bocklet in Sachen Ökonomie, wenn er auf der Basis wissenschaftlicher Erhebungen ein wahres Horrorgemälde an die Wand malt, dem die europäische Zukunft binnen weniger Jahrzehnte schneller entsprechen könnte, als es selbst der darob unbesorgten Brüsseler Ratskamarilla lieb sein könnte. Gumpel rechnet vor, daß die wirtschaftliche Leistungskraft der EU eigentlich schon mit der zweiten Osterweiterung ihre Grenze erreiche. Ein Türkei-Beitritt werde Transfer-Zahlungen ungeahnten Ausmaßes erforderlich machen, wobei allein auf den deutschen Steuerzahler als Minimalbetrag jährlich 2,5 Milliarden Euro zukämen. Die türkische Seite sieht das naturgemäß anders. In einem etwas befremdend klingenden Duktus („Man wird die EU zwingen müssen…“) meldet Mesut Yilmaz, früherer Ministerpräsident des Landes und zur Zeit Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, den türkischen Anspruch an, nun endlich Mitglied der europäischen Völkerfamilie werden zu können. Die Integrationsprobleme, die neben Bocklet und Gumpel auch Gerhard Schmid, der Vizepräsident des EU-Parlaments ins Feld führt, kümmern Yilmaz weniger. Schließlich habe Europa eine alternde Bevölkerung. Die siebzig Millionen Türken kämen daher gerade recht, um für eine „Verjüngungskur“ zu sorgen: „Mit dem Beitritt der Türkei werden die Probleme eines starken Zustroms von außen vermieden und die Verjüngung von innen vorgenommen.“ Dem Islam ist das westliche Menschenbild fremd Gegen solchen Zynismus wirken Bocklets ernste Warnungen vor der Sprengkraft anatolischer Zuwanderung fast bieder und hilflos. Yilmaz jedenfalls dürfte es wenig beeindrucken, wenn der CSU-Jurist unter Berufung auf den sozialdemokratischen Zeithistoriker Heinrich-August Winkler zu bedenken gibt, daß dem Islam das westliche Menschenbild und die bis zur Säkularisation führende Selbstkritik der Religion fremd sei. Vor dem Hintergrund dieses historischen Befundes könne die heutige Türkei zwar für sich reklamieren, daß sie die von der EU geforderten demokratischen Reformen trotz dieser traditionellen Hypotheken vorgenommen habe. Gleichwohl gebe die türkische Geschichte seit 1918 keine Gewähr dafür, „daß die demokratischen Reformen und die rechtliche Festschreibung der westlichen Werte in die Tiefe geht und gesellschaftlichen Bestand hat und nicht wieder von einem islamistisch-fundamentalistischen Sturm hinweggefegt wird.“ Foto: Kinder in Diyarbakir als künftige Europäer: „Man wird die EU zwingen müssen…“

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