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Ein Dorf inmitten der Großstadt

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Ein Dorf inmitten der Großstadt

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Die alte Schule aus rotbraunen Backstein hat schon bessere Zeiten gesehen. Wenn man durch den alten Torbogen auf den Schulhof kommt, trifft man nur wenige Kinder, die unter den hohen Kastanien spielen. Rechts geht es zum Aufgang für Mädchen, links verrät das Schild mit der Aufschrift „Knaben“, daß die Kurt-Held-Grundschule schon von vielen Schülergenerationen durchlaufen wurde. Doch die Uhr über dem Eingang, die auf die Minute genau geht, zeigt, daß die Zeit nicht stehengeblieben ist. Die Knaben heißen längst nicht mehr Friedrich, Hans oder Karl, sondern Asli, Hazan und Murat. Auf dem Schulhof reden die Kinder türkisch, eine Mutter mit Kopftuch kommt, um ihre Zöglinge abzuholen. Auch sie spricht türkisch, so wie die meisten Eltern hier. Denn auf der Schule gibt es fast keine deutschen Kinder mehr. Der Bezirk ist im Wandel. Wir sind mitten in Deutschland, mitten in Berlin-Kreuzberg. Doch nun soll die alte Schule geschlossen werden. Zu wenige Kinder wurden in den letzten Jahren von ihren Eltern angemeldet, obwohl doch eigentlich etliche Kinder im Einzugsbereich wohnen. Doch viele – vor allem die Kinder deutscher Familien – werden von ihren Eltern lieber auf andere Schulen geschickt. Sie fürchten um die Bildung ihrer Kinder in mehrheitlich türkischen Klassen und weichen aus. Man schickt sie lieber auf Schulen in anderen Bezirken mit weniger Ausländern, auf Waldorfschulen etwa. Viele junge Familien ziehen gleich ganz weg. Doch auch den besserverdienenden türkischstämmigen Familien ist die Integration wichtig. Die Eltern achten darauf, daß ihr Nachwuchs in der Schule neben Deutschen sitzt und die Sprache lernt. Nicht selten sind die Kinder dieser Familien Klassenbeste. Oft schicken daher gerade solche Familien ihren Nachwuchs auf Schulen in anderen Bezirken. Übrig bleiben die Kinder aus einfachsten türkischen Verhältnissen. Und das in Kreuzberg, einem einstigen Vorzeigebezirk multikulturellen Miteinanders. Kreuzberg: Der Bezirk, in dem sich im Windschatten der Mauer die Paradiesvögel niederließen, wo es in den Hinterhöfen kleine verträumte Theater gibt, gemütliche Bars und bunte Läden. Geht man durch die altbaugesäumten Straßen, so bezeugen die Kiezläden und Kulturvereine, daß hier viele Künstler, Intellektuelle und Aussteiger auf engem Raum den Flair verschiedener Kulturen genießen. So stellt sich der Bezirk gerne selber dar, so sieht es an manchen Ecken auf den ersten Blick auch aus. Für manche wird der Stadtteil mittlerweile allerdings wohl etwas zu eng. Denn es gibt noch ein anderes Kreuzberg. Und in dem genießen die Leute ganz und gar nicht. Das sind die Straßenzüge, wo die Jugendlichen tagsüber gelangweilt vor den Supermärkten herumstehen und Passanten anpöbeln. Wo die Deutschen beschämt die Straßenseite wechseln, um nicht an der türkischen Jugendgang vorbei zu müssen. Wo man schnell an den beschmierten Hausfassaden vorbeihuscht. Problemkiez heißt das dann im Beamtendeutsch. Problemkiez, das ist da, wo blonde Frauen abends nicht mehr allein an den Dönerbuden vorbei zum S-Bahnhof gehen können. Geht man durch diese Straßen, sieht man in manchen Ecken keine deutschen Läden mehr. Vor allem türkische Reklame und Türschilder zieren die Geschäfte, deren Namen oft nur noch in arabischer Schrift geschrieben sind. Der Gemüsehändler preist seine Auslage auf türkisch an. Die Sprachbarriere wird so an die nächste Generation vererbt: Wer in der Familie türkisch spricht, auf türkisch einkauft und in der Schule kaum auf Deutsche trifft, wird nur schlecht Deutsch lernen. Die Eltern bringen ihre Kinder zum Elternsprechtag mit – als Dolmetscher. Mit Förderklassen versuchen die Lehrer in den Schulen dagegen anzukämpfen, doch ohne Unterstützung aus der Gesellschaft stehen sie auf verlorenem Posten. Für diejenigen Deutschen, die bleiben, bietet der Bezirk noch Nischen. Doch die Nischen, in denen das bunte Treiben nebeneinander zu funktionieren scheint, werden immer enger – nebeneinander, selten miteinander. Karin S., die deutsche Frau aus dem mehrstöckigen Wohnhaus, kennt von ihren türkischen Nachbarn nur wenig mehr als das Klingelschild. Aber ihr fällt auf, wie schnell die türkischen Familien im Haus sich untereinander anfreundeten. Sie ist eigentlich eine richtige Kreuzbergerin, würde sich wohl eher als links einordnen und findet die Idee einer multikulturellen Gesellschaft eigentlich gut. Aber zu ihrer eigenen Überraschung habe sie bemerkt, wie wenig Kontakt sie selbst zu Ausländern hat, wie wenig sie die Menschen in ihrer eigenen Umgebung wirklich kennt. Vieles an ihren türkischen Mitmenschen stört sie: Der viele Müll im Park nach dem Grillen im Sommer, daß die Leute dauernd irgendwo hinspucken, die Rücksichtslosigkeit im Umgang miteinander. Aber das ist ja auch ein Problemkiez, da ist das halt so. Natürlich sei es auch schwierig, gerade an ältere Leute heranzukommen. „Die lernen einfach kein Deutsch“, sagt die Frau. Das kann sie nicht verstehen. „Wer in ein fremdes Land kommt, muß doch die Sprache lernen. Irgendwas scheint hier nicht zu funktionieren“, sagt sie und beteuert, nichts gegen Ausländer zu haben. Gerne hätte sie mehr Kontakte, mehr kulturellen Austausch, aber so richtig lebt die multikulturelle Gesellschaft hier nicht. Die Frau wirkt fast ein wenig erschrocken über ihre eigenen Gedanken. Als ob sie sich zum ersten Mal traut, so zu denken: „Nein, die multikulturelle Gesellschaft funktioniert hier nicht. Hier gibt es zwei Parallelwelten.“ Man lebe halt irgendwie aneinander vorbei. Unter dem grauen Novemberhimmel gehen nur selten ethnisch gemischte Gruppen durch die Straßen. Da ein paar deutsche Frauen, dort eine türkische Großfamilie. Auf dem Spielplatz: Türkische Kinder unter sich. Ein paar Straßen weiter sieht das Kiezgesicht wieder anders aus: Hier gibt es deutsche und ausländische Geschäfte. In der Bäckerei an der Ecke treffen sich Deutsche und Türken. Man kennt, man versteht sich. Der Bäcker hinter der Theke ist Ur-Berliner, ein Original. Eine junge türkische Familie kommt und präsentiert ihm freudig den Nachwuchs. Der Bäcker Uli K. kennt die Eltern: Ja, damals liefen sie noch mit Windeln herum, und jetzt fahren sie BMW und haben schon selber Kinder. Er klingt wehmütig, als ob er über seine eigenen Kinder spricht. Für ihn ist sein Kiez wie ein Dorf. Er scheint sie alle zu kennen, die meisten zu mögen, und alle respektieren ihn. Da wird er schon mal als Bruder angeredet, berichtet er stolz. Sein Freundeskreis ist gemischt. Er weiß von den Sorgen der Kiezbewohner: „Die jungen Leute sitzen zwischen den Stühlen. Hier spüren sie von Seiten der Deutschen Abneigung, sind Ausländer. Wenn sie dann in die Türkei kommen, so gelten sie dort als die Deutschen.“ Und das ist dann dort eher negativ gemeint. Wer fünf Jahre hier lebt, ist für den Bäcker sowieso ein Berliner und viele sind schon an die 30 Jahre hier. Doch leben viele im kulturellen Zwiespalt. Mehr Kopftücher als in Istanbul Klar, an den Schulen sei es gerade für deutsche Kinder schwierig. „Da ziehen die deutschen Familien dann oft weg, dann gibt es in den Gebieten bald eben nur noch Ausländer“, sagt der Bäcker. Wie drüben, nur ein paar Straßen weiter. Natürlich gibt es da auch Probleme. Da müsse man den Leuten halt auch mal sagen, wie sie sich hier zu benehmen haben: „Das traut sich ja aber allzuoft keiner.“ Aber eigentlich gehe er da eh nicht gerne hin. Lieber ist der Bäcker hier in seiner Ecke, in seinem Dorf, mitten in der Großstadt. Er wirkt wie der Schlußstein im Gewölbe, einer eben, der den ganzen Kiez zusammenhält. Die Einwohner in Kreuzberg haben viele Gesichter: Einfache Alt-Berliner. Zugezogene, die die Atmosphäre genießen. Türkische Frauen mit Kopftüchern und langen grauen Mänteln feilschen im Gemüseladen, türkische Männer trinken ihren Tee. Deren Kinder wirken der Welt der Eltern, bereits weit entrückt. Sie orientieren sich an Stars aus Amerika. Sie kleiden sich nicht nur wie ihre Hollywood-Filmhelden, sondern benehmen sich auch wie diese. Ob er sich als Deutscher oder Türke fühle? Nachdenklich runzelt der junge Mann die Stirn. „Ich bin zwar in Istanbul geboren, aber ich bin Kreuzberger“, antwortet Achmed E. in gutem Deutsch. Mit seiner Brille und seiner dezenten Kleidung paßt er nicht in das herrschende Machoklischee. Auch er steht zwischen vielen Fronten: Da sind die Vorurteile der Deutschen. Viele hätten Angst vor ihm, nur weil er aus der Türkei kommt. Meist werden Blockaden aufgebaut, ohne ihn richtig kennengelernt zu haben. Da sei es nicht leicht, Kontakt zu finden. Oft wundert er sich über die Vorstellungen, die Deutsche von den Türken haben. Dennoch sind die meisten seiner Freunde Deutsche. Unter den Türken findet er es oft recht schwierig. „In Berlin tragen mehr Türkinnen Kopftuch als in Istanbul. Diese Familien kommen dann oft aus Anatolien“, sagt er. Diese Türken lebten und praktizierten ihre Religion auch ganz anders als er und seine Familie. „Den Islam habe ich in Istanbul ganz anders kennengelernt, als hier in den Medien berichtet wird. Auch ganz anders, als ihn die Traditionalisten aus Anatolien hierher mitbringen und vertreten. Für mich ist der Islam der Weg des Herzens.“ Für die Traditionalisten ist der junge Mann ein Ungläubiger, weil er es mit der Religion nicht so genaunimmt. Er schüttelt den Kopf. Warum die Leute die Wertvorstellungen aus der Heimat mitbringen, kann er nicht verstehen. Man müsse sich anpassen – oder man geht woanders hin. Woanders hingehen: So wie die vielen deutschen Familien, die sich in Kreuzberg nicht mehr zu Hause fühlen. Deren Kinder täglich mit voller Wucht erleben, was es heißt, auf einer multikulturellen Zeitbombe zu leben. Die Familien gehen, weil im Klassenzimmer, im Supermarkt und auf dem Spielplatz mittlerweile eine andere Sprache gesprochen wird als in der heimischen Küche. So wandelt sich schleichend der gesamte Bezirk. Die Lücken, die entstehen, werden schnell und unbemerkt geschlossen. Foto: Kurt-Held-Schule, türkisches Klubhaus in Berlin-Kreuzberg: Viel Nebeneinander, wenig Miteinander Der Berliner Stadtteil Kreuzberg: Im 2.016 Hektar umfassenden Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der sich aus dem ehemaligen West-Berliner Bezirk Kreuzberg und dem früheren Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain zusammensetzt, leben derzeit rund 256.000 Menschen. 22,4 Prozent der Einwohner sind Ausländer, der Großteil von ihnen lebt in Kreuzberg. Unter den 24.480 Schülern des Bezirkes beträgt der Ausländeranteil sogar 32,3 Prozent. Da diese Schüler vorwiegend die Schulen in Kreuzberg besuchen, liegt dort der Anteil ausländischer Kinder an den Schulen über dem Bezirks-Durchschnitt. (JF)

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