Eine rührend blauäugige Erklärung für unsere innenpolitischen Schwierigkeiten hat Manfred Erhardt, Generalsekretär des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft, unter die Leute gebracht. Auf einem sogenannten „Push“-Seminar seiner Stiftung in Mainz führte er aus: Es gibt vier Kräfte, die den Weg einer modernen Gesellschaft bestimmen, die Politik, die Medien, die Wirtschaft und die Wissenschaft. Aber diese Kräfte können nicht ordentlich miteinander kommunizieren, weil jede einem anderen, letztlich inkompatiblen „Paradigma“ gehorcht.
Für die Wissenschaft, so Erhardt, gehe es einzig und allein um die Wahrheit, für die Medien einzig um die Interessantheit. Die Wirtschaft ihrerseits frage immer nur nach der Rentabilität und die Politik danach, ob eine Sache opportun oder inopportun sei. Wahrheit, Interessantheit, Rentabilität, Opportunität — diese vier Paradigmen gelte es im modernen Kommunikationsprozeß unter einen Hut zu bringen, und das sei so gut wie unmöglich, jedenfalls außerordentlich schwer zu bewerkstelligen.
Pankraz kamen fast die Tränen. Wo gibt es denn heute noch eine Wissenschaft, der es um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit geht? Einmal ganz abgesehen von der alten Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“ — die meisten Wissenschaftler sind heute doch längst auf Rentabilität statt auf „Wahrheit“ programmiert, und wer seine Forschungen nicht sofort in Heller und Pfennig umsetzen kann, der will sich wenigstens interessant machen, sein Paradigma ist also die Interessantheit und natürlich auch die politische Opportunität. Er ist kompatibel bis zum Exzeß, mediengeil und politikerfreundlich, an ihm kanns nicht liegen.
Und die Medien? Bringen sie wirklich nur das, was interessant ist, und lassen alles andere links liegen? Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Bei den populären Boulevardzeitungen und -magazinen findet sich statt dessen eine klägliche Schrumpfform von Interessantheit, in Gestalt des immer gleichen Klatsches, wo es einzig um die Frage geht, „wer mit wem?“ Und die sogenannten „seriösen“ Medien transportieren zu neunzig Prozent nichts weiter als völlig uninteressantes Politgelaber, wie es tagtäglich routinemäßig von den offiziellen Pressestellen abgelassen und von den Agenturen verbreitet wird. Auch die Medien sind überaus kompatibel, richten sich an Politik und Wirtschaft aus und sprechen denselben Jargon.
Schließlich das Opportunitätsdenken der Politiker — worin unterscheidet es sich vom Rentabilitätsdenken der Wirtschaft? Pankraz kann keinen Unterschied wahrnehmen. Hier wie dort geht es um Kostenfragen, um das ewige „Was bringt mir das ein? Wer macht seinen Reibach? Wem wird was gekürzt, und wieviel ist es?“ Die deutsche Politik ist unter Schröder und Fischer, Merkel und Stoiber zu einer bloßen Außenstelle der Wirtschaft geworden, zu ihrer Anstreicher-Abteilung, wo das, was ohnehin passiert, mit einigen Verschönerungsphrasen umhüllt wird. Aber jeder versteht inzwischen, wies gemeint ist. Ein Kompatibilitätsproblem stellt sich auch hier nicht ein.
Die Misere liegt nicht, wie der Wissenschafts-Generalsekretär meint, in mangelnder Kompatibilität und daraus folgender ungenügender Kommunikation, sondern — genau im Gegenteil — in allzu billiger Kompatibilität und in einer „Kommunikation“, die nur noch eine Schein-Kommunikation ist, weil sich „die vier maßgebenden gesellschaftlichen Kräfte“ (M. Erhardt) von vornherein einig sind und im Grunde gar nicht mehr miteinander sprachlich zu kommunizieren brauchen. Sie sind sich einig im Willen, die herrschende Misere nicht etwa zu beheben, sondern sie lediglich zu verwalten. Und dazu gehört nicht zuletzt, gewisse Tatbestände zu beschweigen, statt über sie zu reden.
Auf dem Mainzer „Push“-Seminar, auf dem Erhardt seine Vier-Kräfte-Lehre vortrug, war gut zu studieren, welche Kraft den Ausschlag gibt und gewissermaßen die Hosen anhat, zumindest nach Auffassung des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft. Es ist die Wirtschaft. Alle übrigen Kräfte, so die unübersehbare Absicht des Seminars, sollen immer wieder „gepusht“ (also angestoßen) werden, damit sie ein williges Kompatibilitäts-Organ der Wirtschaft werden bzw. bleiben, besonders die Wissenschaft, für die der Stifterverband ja steht und die zu fördern er angetreten ist.
Ob es gut ist, die Wissenschaft ausschließlich in Hinblick auf die eventuelle wirtschaftliche Rentabilität ihrer Ergebnisse zu fördern, steht dahin. Dieser Förderstil könnte im Endeffekt dazu führen, daß weder die Wissenschaft noch die Wirtschaft wirklich gefördert werden. Abschreckendes Beispiel ist der von der Wirtschaft ins Leben gerufene und von ihr unterhaltene Förderverein selbst, der immer größere Summen in Förderpreise und -programme steckt, ohne daß die deutsche Wissenschaft sichtbar davon profitiert. Es profitieren die mit Preisen Überschütteten und mit Geldern Ausgestatteten, die dann aber, wenn die Gelegenheit da ist, trotzdem in Richtung USA entschwinden. Wer will schon Erster Offizier auf einem sinkenden Schiff sein!
Wer heute die deutsche Wissenschaft effektiv fördern will, der muß zunächst einmal und mit voller Absicht aus dem unheiligen Kompatibilitäts-Kartell der „Vier Kräfte“ aussteigen, die Ära des Geschwätzes und des parallelen Beschweigens zu beenden suchen und die Wissenschaft wieder zu Atem und zu eigenen Vorhaben kommen lassen. Vor allem wäre wichtig, jene innerwissenschaftlichen Kräfte zu ermuntern, die noch einen Begriff von wahrem Wissenschaftsethos und von Wissenschaftsfreiheit haben und sich ihre Standards nicht von der Masse und von den mit ihr verbündeten Opportunitäts-Strategen vorschreiben lassen wollen.
Um die Wahrheit geht es dabei nicht, aber auch nicht um bloße Rentabilität. Es geht „nur“ um eine Wissenschaft, die ihren Namen wirklich verdient.