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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Es kann jeden treffen

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Der Kongreß und die Presse in den USA beginnen sich wieder auf die Aufgaben zu besinnen, die Parlament und Medien in einer freien Gesellschaft haben: die Regierung zu kontrollieren! Als Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor dem Streitkräfteausschuß wegen der Foltervorwürfe kleinlaut einräumte, die USA würden nicht an Worten, sondern an Taten gemessen, kommentierte der Ausschußvorsitzende die Aussage mit strengem Blick und vorwurfsvollem Kopfnicken. Er wollte den Fernsehzuschauern weltweit die Botschaft vermitteln, daß er die Empörung über die Hinweise auf Folter im Irak voll und ganz teilt. Das könnte beruhigend sein. Denkt man andererseits die Sachlage konsequent zu Ende, stößt man auf ein strukturelles Problem, das wahrhaft erschreckend ist: Gegen die Instanz, die grenzüberschreitend foltert, gibt es im Ernstfall keinerlei Schutz und Berufung. Es kann sozusagen jeden treffen, der den USA ein Dorn im Auge ist. Denn erstens sind sie militärisch übermächtig, zweitens sind die Schutzzäune, die ihre Macht einhegen könnten – die Bestimmungen des Völkerrechts – unter Mithilfe idealistischer Europäer, die während der Balkankriege die formalen Kriterien durch moralische ergänzen wollten, in den letzten Jahren weggeräumt worden. Da die Definitionsmacht darüber, was Moral ist, beim einzigen Hegemon liegt, ist dessen Willkür jetzt Tür und Tor geöffnet. In Deutschland ist das fehlende Vorstellungsvermögen zusätzlich die Folge einer historischen und literarischen Amnesie, die planmäßig herbeigeführt wurde. Sonst wüßte man, daß vergleichbare rechtsfreie Räume wie in Guantánamo und Irak auch im Nachkriegsdeutschland existierten. Während die Konzentrationslager, die die Sowjetunion nach 1945 in ihrer Zone errichtete, allmählich wieder ins öffentliche Bewußtsein treten – einen Anfang setzte Uwe Johnson mit dem vierten Teil seiner „Jahrestage“ -, wird über die amerikanischen Internierungslager weiter geschwiegen, obwohl dazu ein Roman von gleichfalls hohem Rang vorliegt: Ernst von Salomons „Fragebogen“. Dieses 1951 erschienene Buch war der erste deutsche Bestseller nach dem Zweiten Weltkrieg. Das macht seine Abwesenheit in den literarischen Debatten von heute um so bedeutungsvoller. Der Grund ist klar: Das Bild, das Salomon von den ersten Jahren der Besatzung zeichnet, hat mit dem Bild vom freundlichen GI, der Demokratie und Kaugummis bringt, nur bedingt zu tun. Salomon saß selber 1945/46 in einem Internierungslager ein, ohne Begründung. Die würde sich, versicherte man ihm, schon finden. Der Schock der Festnahme wurde durch Geschrei („Mak snell!“) und Mißhandlungen vergrößert. Das waren keine spontanen Übergriffe. Die Internierten wurden systematisch mit Prügel empfangen, Salomon verlor dabei mehrere Zähne. Seine Frau, eine Jüdin, die er in der NS-Zeit ritterlich geschützt hatte, wurde ebenfalls verhaftet. Im Lager traf er Schuldige und Unschuldige, echte Nazis, kleine Mitläufer, eine Elite aus Verwaltung und Militär, aber auch einfache Leute, die bloß unliebsam aufgefallen oder denunziert worden waren wie die Flüchtlingsfrau, die die Dorfbewohner wieder loswerden wollten. Wenn ein bestimmter Sergeant durch das Lager streifte, hielten die Sanitäter schon Bahren bereit, weil die Opfer regelmäßig – wie es hieß – „lazarettreif“ geschlagen wurde. Ein Tiroler Dorfbürgermeister kommentierte die Wirkung der Prügel: „‚Dös Schlog’n, …, es ist net zweg’n dem G’spürn, dös net (…) Aber söllisch halt! Söllisch!! Söllisch!!!‘ Und erst nach einer kleinen Weile begriff ich, daß er ’seelisch‘ meinte …“ Morgens wurde unter Musik die amerikanische Flagge aufgezogen und abends wieder eingeholt. Beim ersten Hörnerklang mußten die Internierten eine stramme Haltung ein- und die Kopfbedeckung abnehmen. Wer zuwiderhandelte, mußte den ganzen Tag in glühender Sonne unter dem Sternenbanner stillstehen. „Einfache Soldaten, fröhliche junge Burschen, GI’s, die hinter sich die meisten Panzer wußten und die reichsten Rohstoffvorkommen, fanden es einen köstlichen Spaß, Generäle zu ohrfeigen …“. Bei Einbruch der Kälte durften die Internierten lange Hosen tragen. Sie mußten aber kurze weiße Höschen aus den Beständen der italienischen Schwarzhemden darüberziehen, was einen Anblick erzeugte, „der ungemein entwürdigend wirkte bei erwachsenen Männern“. Es herrschen katastrophale hygienische Zustände, gleichzeitig äußerte das amerikanische Lagerpersonal bei jeder Gelegenheit seine Verachtung für die „schmutzigen Deutschen“. Der Lagerkommandeur ließ innen vor den Stacheldrahtzaun einen zweiten Draht ziehen, der von den Häftlingen zum Wäschetrocknen genutzt wird. Manchmal wurden Wäschestücke in Richtung Drahtzaun geweht: Dann machte ein Offizier sich einen Spaß daraus, dem Besitzer der Wäsche zu befehlen, diese unter seinen Augen zurückzuholen: „ein herrlicher Spaß, denn die Posten auf den Wachtürmen schossen sofort, und da viele der alten Herren nicht gelenkig genug waren, blieben sie denn mit mehr oder weniger schweren Verwundungen liegen“. Sexuelle Demütigungen gehörten ebenfalls zum Programm. Der Gefangenenstatus war ungeklärt: „Das Rote Kreuz trat überhaupt nie in Erscheinung, es war, als existiere diese kostspielige Einrichtung überhaupt nicht. Freilich blieb auch völlig im unklaren, was mit uns eigentlich los war. Wir wurden ‚Internierte‘ genannt, aber auch Internierte unterstanden der Genfer und Haager Konvention.“ Sie waren weder Kriegsgefangene noch KZ-Häftlinge und sahen sich schließlich als „Opfer einer hübschen und ausgewachsenen Heuchelei“. Für die innere Verwaltung wurden als „Kapos“ Berufsverbrecher eingesetzt, die bereits in deutschen Konzentrationslagern gesessen hatten und von den Amerikanern zu diesem Zweck einbehalten wurden. Das Kindler-Literaturlexikon (Ausgabe 1988) spricht von einer „zynischen Aufrechnung der Naziverbrechen“ durch Salomon, ähnlich wie das Romanlexikon der DDR (Ausgabe 1977), das eine „Apologie auf exponierte faschistische Persönlichkeiten“ zu erblicken glaubte, deren Verbrechen im Verhältnis zu ihrer Bestrafung als „Kavaliersdelikte“ dargestellt würden: ein Beispiel gesamtdeutschen Blödsinns schon vor dem Mauerfall. Offensichtlich berührte – und berührt – Salomon Tiefenschichten des kollektiven Bewußtseins in Deutschland. Das Verhalten der Amerikaner wurde bald humaner. Auch heute möchte man hoffen, daß das Beste in der amerikanischen Gesellschaft das regierungsamtliche Gangstertum bald in die Schranken weist. Für eine neue Salomon-Rezeption ist die deutsche Gesellschaft noch nicht reif. Aber die Genugtuung darüber, daß die weltweite Neigung, von den Amerikanern hehre moralische Belehrungen entgegenzunehmen, jetzt rapide abschmilzt, könnte einen Lernprozeß in Gang setzen. Foto: Ein gefangener Iraker wird in Tikrit von US-Soldaten bewacht: Gegen die Instanz, die foltert, gibt es im Ernstfall keinerlei Schutz

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