In den Siemens-Werken in Kamp-Lintfort und Bocholt werden Handys ab dem 1. Juli in einer 40-Stunden-Woche hergestellt. Einen Lohnausgleich für die Arbeitszeitverlängerung um fast 15 Prozent gibt es nicht. Statt dessen verzichten die Beschäftigten auf das bisher übliche Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Der Elektronikkonzern kann auf diese Weise die Lohnkosten um knapp 30 Prozent in etwa auf das in Ungarn anzutreffende Niveau senken. Dies erlaubt ihm, von der bisher diskutierten Verlagerung von 2.000 der rund 4.500 Arbeitsplätze dorthin abzusehen. Der Siemens-Chef Heinrich von Pierer betont, daß er damit lediglich ein spezifisches Problem seines Konzerns habe lösen wollen. Das Wort Modellcharakter nehme er bewußt nicht in den Mund. Dies tun andere für ihn. Für die Service- und Vertriebsmitarbeiter von Siemens sowie für den gefährdeten Standort Bruchsal sollen ähnliche Problemlösungen im Gespräch sein. Mercedes-Benz schöpft frischen Mut, durch ein derartiges Modell manch konzerninterne Auftragsvergabe nach Deutschland doch noch rechtfertigen zu können. In vielen Unternehmen etwa aus der Bau- oder der Dienstleistungsbranche melden sich Stimmen, ob man nicht auch ihre ganz spezifischen Probleme auf diese Weise lösen sollte. Es ist vernünftig, daß die so liebgewonnenen wie überholten Sozialstandards zunächst von jenen Unternehmen aufgeweicht werden, die in der Öffentlichkeit glaubwürdig den Eindruck erwecken können, sie handelten aus einer Zwangslage heraus. Auf Dauer wird sich die Vorstellung, man sollte Lohnvereinbarungen und Arbeitszeitregelungen der jeweiligen betrieblichen Lage anpassen, aber als trügerisch erweisen. Die länger arbeitenden Beschäftigten werden sich fragen, wieso andere einfach weniger leisten dürfen, bloß weil ihr Unternehmen keine Verlagerungsalternativen geltend zu machen versteht. Die florierenden Betriebe werden es nicht hinnehmen, daß ausgerechnet kränkelnde Standorte und Branchen Vorzüge genießen sollen, während sie für ihren Erfolg die Strafe erhalten, an Regelungen aus der Zeit mächtiger Arbeitnehmervertretungen gebunden zu bleiben. Man darf also erwarten, daß die überkommenen Sozialstandards nicht einer Vielzahl individueller Lösungen, sondern neuen Sozialstandards Platz machen, die genau besehen ganz alte sind. Ein Anfang ist gemacht, und jetzt darf man nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Ganz offen sollte man sich nicht mit einer 40-Stunden-Woche begnügen, sondern gleich die Wiederaufnahme der Wochenendarbeit ins Auge fassen. Der uralte DGB-Slogan, daß am Samstag „der Papi“ den Kindern gehöre, fände keine neuerliche Resonanz, da die Familie in unserer Gesellschaft nicht mehr der Normalfall ist. Die Heiligung des Sonntags ist angesichts der weitgehend abgeschlossenen Entchristianisierung per se anachronistisch. Was sollte die Wirtschaft also daran hindern, eine 48- oder gar eine 56-Stunden-Woche zu fordern?