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Die Nacht war sein eigentliches Reich

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Auf die Frage „Gibt es eigentlich lustige Musik?“ hat Franz Schubert selbst einst geantwortet, daß er von keiner wisse. Zwar ist das Bild eines pausbäckig-naiven, dennoch genialen und ungenierten Bohemiens längst widerlegt – daß es sich aber noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein behaupten konnte, läßt aufgrund dieser eigenen Einschätzung verwundern. Freilich, zu seinen Lebzeiten mögen seine Tanzkompositionen mehr als seine Lieder und Instrumentalstücke bekannt gewesen sein, was ihn dann später auch zu oft in die Nähe von Johann Strauß rücken ließ – und das nicht nur in Wien, wie schon Alban Berg 1928 bedauernd feststellte. Freilich auch haben das Operettenklischee des „Dreimäderlhauses“ wie auch die literarische Kolportage eines Rudolf Hans Bartsch, durch den der Komponist zum „Schwammerl“ wurde, noch vor dem ersten Krieg das Ihre zu einem völlig falschen Schubertbild geleistet. Nachtseiten in Sehnsüchten der Romantik geöffnet Trotzdem – in Schuberts Schaffen selbst ist jene Ambivalenz zwischen Hell und Dunkel unübersehbar, zwischen diesseitigem Lebenstaumel und einer durchaus auch zu greifenden Transzendenz (nicht zuletzt auch ganz offenkundig durch des Komponisten ganz eigenes, seltsam irisierendes Dur-Moll-Schwanken in Harmonik und Melodieführung), wobei allerdings die nächtlichen, die Todesstimmungen überwiegen. Die Nacht war sein eigentliches Reich. Nach der Sonnenmusik Mozarts und dem Kampf um Licht im Werk Beethovens öffnete Schubert die Nachtseiten in den Sehnsüchten der Romantik. In fast all seinen Werken spürt man jenes „media in vitae“, jenes Todumfangensein in der Fülle des Lebens. Der Anfang des G-Dur-Streichquartetts (op. 161, DV 887) stellt schroff den G-Dur-Akkord gegen den aus G-Moll, der Charakter der musikalischen Entwicklung bleibt unbestimmt. Im Streichquintett C-Dur (DV 956) beispielsweise, wenn nach dem wild-dionysischen Lebenstanz des Scherzo die gespensterhaften, fahlen Akkorde des Trios erklingen (die noch in reinen Dur-Harmonien gehalten sind), und wenn den letzten Akkord des mehr wilden als heiteren Finales ein schauerlicher Vorhalt des Tones „Des“ verzerrt – alles völlig unüblich für die Tonsprache der damaligen Zeit -, wirkt dies auf den Hörer erschütternd. Direkt führt von hier der Weg zu Anton Bruckner, der beispielsweise im Finale seiner Dritten eine Polka mit einem Choral kontrapunktiert und dabei an eine Hochzeit denkt, die im Nebenhaus von einer Trauerfeier überschattet wird. Nicht selten findet man dieses Phänomen in einer Art Umkehrung, sehr oft in den Liedern, wenn z. B. in Höltys Totengräberlied (DV 44) ein kontemplativer Text mit einer geradezu lasziv-tändelnden Melodie unterlegt wird. Stets ist an Schuberts Tonsprache auffällig, daß er in strahlenden Dur-Tonarten imstande ist, den Ausdruck größter Melancholie zu erzielen (siehe das E-Dur-Andante der Unvollendeten) und andererseits in dunklen Moll-Harmonien die lebensbejahendsten Tänze oder Finali zu schaffen versteht (Impromptu f-moll, op.142/4, Divertissement zu vier Händen e-moll, DV 823). Obwohl Franz Schubert im Wiener Vorort Lichtental geboren wurde, ist sein Ursprung schlesisch. Seine Eltern stammen aus der Böhmen umgebenden ethnographischen Mischzone. Seine Mutter kommt aus Zuckmantel in Österreichisch-Schlesien, der Vater wanderte aus Mähren nach Wien ein. Die Unsentimentalität seiner Tonsprache und eben dieses Wissen um die jenseitigen Dinge mitten im Diesseitstaumel mögen sich aus dieser Genealogie deuten lassen. Aus diesem Schlesiertum, seiner Neigung zum Mystifizieren, zum Spintisieren mag vielleicht dieses Helldunkel seiner Tonsprache rühren, das erwähnte Schillern zwischen den Tongeschlechtern, und vielleicht nicht von ungefähr ist ein Chorwerk Schuberts mit dem Titel „Nachthelle“ (DV 892, mit Solotenor) eines der bedeutendsten der Männerchorliteratur. In den letzten Wochen vor seinem Tode komponierte Schubert fast gleichzeitig an zwei auf den ersten Blick ganz unterschiedlich erscheinenden Werken: zum einen an der enigmatischen, Fragment gebliebenen D-Dur-Symphonie (DV 936a), deren H-Moll-Andante in seiner klanglichen Öde wahrscheinlich das Trostloseste ist, was die Musik des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat und bis in die Zeit Schostakowitschs in der Stimmung nicht wiederholt wurde. (Diese Musik fand 1989 nicht von ungefähr Verwendung als Untermalung für Peter Schamonis Film über Caspar David Friedrich „Grenzen der Zeit“.) Zum anderen, für eine seltsame Besetzung mit Klarinette, Klavier und Sopran, die bukolische Szene nach Worten von Wilhelm Müller „Der Hirt auf dem Felsen“ (DV 965), in deren Schlußteil der Hirt sich fröhlich trällernd zum Wandern im Frühling bereit macht. Polarität sollte zeitlebens sein Schaffen prägen Doch in diesen beiden Werken liegt weitaus mehr als nur die zeitliche Nähe von Trauer und Frohsinn. „Der Hirt auf dem Felsen“ ist ein Abschiedslied. Seine beiden mittleren Strophen stammen von Schubert selbst. Wenn es da heißt: „In tiefen Gram verzehr ich mich, mir ist die Freude hin“, dann wird evident, daß Schubert wahrscheinlich zu gut um diesen Frühling wußte. Es war nicht der des Jahres 1829, den zu erleben ihm nicht mehr vergönnt war, sondern der „ewige“ Frühling, in den er drei Wochen nach Beendigung der Komposition eingehen sollte. So schloß sich in seinen beiden letzten Schöpfungen nun der Kreis, löste sich die Polarität auf, die zeitlebens sein Schaffen charakterisieren sollte.

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