Wenn der ehemalige Vizekanzler Jürgen W. Möllemann im Jahr 2003 Klartext redet, dann hört man einen außergewöhnlichen deutschen Politiker sprechen. Außergewöhnlich deshalb, weil Möllemann zum Establishment dazugehört hat, dann aber gnadenlos von ihm aussortiert wurde. Damit ja nicht in Vergessenheit gerät, welches Unrecht ihm angetan worden ist, ruft er es dem Leser wiederholt in Erinnerung. Sein Buch „Klartext“ ist mehr als eine Abrechnung mit seiner Partei, allen Parteien und der bundesdeutschen Realität 2003. Es enthält auch viele politische Aussagen, die dafür sprechen, daß Möllemann sich mit einer neuen politischen Formation ins Spiel bringen möchte. Im Vordergrund steht aber seine Rache an denjenigen, die seine FDP-Karriere beendet haben. Natürlich ist Möllemann ein westdeutscher Achtundsechziger – mag er es noch so sehr abstreiten. Er erwähnt gern die Faszination, die Willy Brandt auf ihn ausgeübt hat. Aber er tut dies auch und gerade, weil er den Brandt-Rücktritt dann mit dem seines innerparteilichen Gegners Otto Graf Lambsdorff kontrastiert. Bei Brandts Rücktritt hatte er Tränen in den Augen, sagt Möllemann. Über den Rücktritt des früheren Wirtschaftsministers berichtet er trocken, dieser sei erst nach Mitternacht erfolgt. Am gerade angebrochenen Tag sei Lambsdorff nämlich in die nächsthöhere Pensionsstufe gerutscht. Für Möllemann spricht, daß er jene, die ihn innerhalb der FDP schon immer geschnitten haben, relativ leidenschaftslos kritisiert. Personen wie Klaus Kinkel, Wolfgang Gerhardt, Walter Döring und Ruth Wagner bleiben deswegen verbale Ohrfeigen erspart. Sie kämpften „mit offenem Visier“, wie er sich auszudrücken pflegt. Für Lambsdorff und Genscher bringt Möllemann dagegen weniger Verständnis auf. Obwohl er immer als politischer Ziehsohn Hans Dietrich Genschers galt, vergleicht er seinen Mentor und den selbsternannten „Marktgrafen“ mit den beiden Alten aus der Muppet-Show. Der Rekord-Außenminister Genscher wird von Möllemann bewußt bloßgestellt, wenn er den Anruf schildert, in dem Genscher ihn angefleht habe, ihm den Friedensnobelpreis zu besorgen. Er, Möllemann, habe sich redlich – wenn auch erfolglos – bemüht. Der „baltische Junker“ Lambsdorff sei einer, der „andere mit Stiefeln tritt“. Diese Feindschaft resultiert vielleicht aus der Tatsache, daß Lambsdorff alles das von der FDP bekommen hat, was die Partei Möllemann versagt hat. Nach seiner Verurteilung wegen einer Parteispendenaffäre wurde Lambsdorff Ehrenvorsitzender der FDP. Lambsdorff hatte Spenden für die FDP zu Unrecht entgegengenommen. Möllemann dagegen stellte der Partei Geld aus seinem Privatvermögen zur Verfügung, ohne gegen Gesetze zu verstoßen. Eine Sonderrolle nimmt Guido Westerwelle ein. Er wird in Möllemanns Buch nur ironisch als „Dr. Westerwelle“ tituliert. Darin spiegelt sich die Enttäuschung darüber wider, daß Westerwelle Möllemann fallengelassen hat, nachdem Möllemann mit dem amtierenden FDP-Vorsitzenden ein Bündnis eingegangen war, um Gerhardt zu entmachten. Westerwelle und das peinliche Guidomobil werden höhnisch in Erinnerung gerufen. Sehr zutreffend stellt Möllemann fest, daß das unkonventionelle Wahlkampf-Gefährt am besten einer vom Hochwasser an der Elbe geschädigten Familie zur Verfügung gestellt worden wäre. Aber: „Wenn ihn niemand treibt, treibt er nichts.“ „Dr. Westerwelle“ sei viel mehr von seinem Besuch in Israel beeindruckt gewesen als von der Elbeflut. Ein Mossad-Angehöriger sei auf Westerwelle zugetreten, um ihm zu sagen, daß die israelische Regierung Möllemanns „politischen Kopf“ verlange. Später habe Westerwelle sich immer wieder mit Pim Fortuyn verglichen. Möllemanns Andeutung, der israelische Geheimdienst kenne viele private Details, kann sich nur auf Westerwelles Homosexualität beziehen. „Sie wissen gar nicht, was die mir zugemutet haben“, soll Westerwelle zu Möllemann über die Israelis gesagt haben. Auch Klaus Kinkel stuft Möllemann als Handlanger Israels ein. Seit seine Tochter mit einem Mossad-Agenten verheiratet ist, habe er treuherzig die Interessen seines Landes hinter denen Israels zurückgestellt. Die Saudis, die sich um gute Beziehungen zu uns Deutschen bemüht hätten, habe Kinkel schwer gedemütigt. Zusammen mit Helmut Kohl habe er den Verkauf von Leopard-II-Panzern an Saudi-Arabien mit Blick auf Israel unterbunden. Statt dessen habe die Bundesregierung Israel begehrte U-Boote geschenkt. Dann leitet Möllemann über zu den aktuellen Themen wie seinem Flugblatt, das seine Karriere beendet hat. Seine Motivation in der heißen Wahlkampfphase war klar: CDU/CSU und FDP glitt der sichere Sieg aus den Fingern, weil Bundeskanzler Schröder sich als Friedensengel präsentierte. Die geradezu peinliche Anbiederung des bürgerlichen Lagers an George Bushs Kriegskurs wollte Möllemann als deus ex machina beenden. Der Erfolg der FDP in Nordrhein-Westfalen mit dem besten Stimmergebnis aller Zeiten gibt ihm recht. Dabei ist in Möllemanns Weltbild nichts von dem ihm wegen seiner Kritik an Israel vorgeworfenen Rechtsrutsch festzustellen: Er vertritt in der Zuwanderungsfrage eine Meinung, die er bei Genscher als lavierend charakterisieren würde. Als fortschrittliche Neuerung lobt er, daß die FDP das Thema „Lebensabschnittspartnerschaft“ in ihr Programm aufgenommen habe. Sozialpolitisch vertritt Möllemann die alte FDP-Forderung nach der Schaffung einer Grundrente. Die Kosten der medizinischen Versorgung sollen transparenter gestaltet werden, indem jeder Patient sie zunächst selbst begleicht. Er wünscht sich ein strenges Subsidiaritätssystem und tadelt die Europapolitik und die Europäische Union: „In Brüssel und auf der internationalen Bühne zahlen wir zuviel Geld für zuwenig Einfluß.“ Entwicklungshilfe prangert er als schmutziges Geschäft an, von dem Politiker und Funktionäre erheblich profitierten. Außerdem äußert er heftige Kritik an Jürgen Rüttgers, weil dieser sich der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nicht widersetzt habe, als Ministerpräsident Wolfgang Clement ein Bündnis für Weltoffenheit und Toleranz in ein „Bündnis gegen Rechts“ umwandelte. Möllemann bemängelt dieses Gebaren in der deutschen Politik, und er fragt, ob es nicht mehr erlaubt sei, „seine Meinung zu sagen“. Den verkrusteten Strukturen und der herrschenden Kaste aus Politikern und Funktionären sollten die Bürger die „rote Karte“ zeigen. Fraktionszwänge gehörten abgeschafft, so Möllemann weiter. Außerdem müßte der Kanzler direkt gewählt werden und die Unabhängigkeit der Legislative wiederhergestellt werden. All dies sind natürlich Forderungen, die erst ein geschaßter Möllemann erhebt, der nun selbst nicht mehr zum Kreis der anerkannten Spitzenpolitiker gehört. Für die FDP sieht er langfristig keine Überlebenschance. Ohne ihn bestehe sie ja schließlich nur noch aus „Versagern“ und „Opportunisten“. Außerdem rechnet er mit einer Großen Koalition, die das Mehrheitswahlrecht einführt. Deswegen betitelte er das letzte Kapitel seines (vor seinem Parteiaustritt geschriebenen) Buches auch mit „FDP ade“. Ob diese Perspektive für ein erfolgreiches Comeback mit einer neuen Partei ausreicht, bleibt jedoch ungewiß. Jürgen W. Möllemann: Klartext. Für Deutschland. C. Bertelsmann Verlag, München 2003, PB, 256 Seiten, 18 Euro