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Marc Jongen, ESN Fraktion

Erster Akt im Sommertheater

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Politische Verhältnisse ändern sich schneller als das Wetter. Mit einer Handvoll ungedeckter Steuerreform-Schecks und dem trostlosesten Bundeshaushalt aller Zeiten ist es Bundeskanzler Gerhard Schröder gelungen, wieder in die Offensive zu kommen. Die Union ist zwar in den Umfragen immer noch führend, vermittelt aber das Bild eines aufgescheuchten Hühnerhaufens. Während Schröder Boden gutmacht, schimmert bei der Union die Debatte der Zukunft durch. Es geht um die Kanzlerkandidatur. CDU-Chefin Angela Merkel war es nicht gelungen, aus dem Streit mit ihrem Fraktionsvize Horst Seehofer um die Ausgliederung des Zahnersatzes aus der Gesetzlichen Krankenversicherung die richtigen Lehren zu ziehen und die Zügel anzuziehen. Schon die Debatte um die Gesundheitsreform war für die Union verheerend. Als Schröder entgegen seiner Aussagen in der Agenda-Regierungserklärung vom 14. März auf einmal für das Vorziehen der Steuerreform um ein Jahr eintrat, schien die Union von der Flexibilität des Kanzlers völlig überrascht, lehnte erst ab, stimmte dann zu, um erstaunt festzustellen, daß Hessens Ministerpräsident Roland Koch bei seiner ablehnenden Haltung zur Steuerreform blieb. Eines dürfte dabei klar sein. Koch nutzt die Gelegenheit, um sich gegen die ungeliebte CDU-Chefin in Stellung zu bringen. Die Lager sortieren sich, heißt es in der CDU mit Blick auf die Kanzlerkandidatur 2006. Doch der, den man glaubt, 2006 ablösen zu können, zeigt sich besser als erwartet, wenn es darum geht, sich an die Spitze der öffentlichen Bewegung für Steuersenkungen zu setzen. Ganz freiwillig tat Gerhard Schröder das nicht. Noch am 14. März hatte er ein Vorziehen der Steuerreform abgelehnt und versichert, es bleibe beim Inkrafttreten der dritten Stufe 2005: „Mehr ist nicht zu verkraften.“ Doch daß Springers Bild-Zeitung seit Wochen ihre Leser mit Schlagzeilen und Aufklebern auf das Thema Steuersenkung heiß machte, blieb auch dem Kanzler nicht verborgen. Er wechselte schnell seine Position und war plötzlich für die Steuersenkung, auch wenn weder er noch sein Finanzminister Hans Eichel bisher plausibel erklären konnten, wie die Steuerausfälle bei Bund und Ländern von 18 Milliarden Euro im nächsten Jahr gedeckt werden sollen. Prämiert mit dem „Steuer-Orden“ der Bild-Zeitung stand Schröder auf einmal in der Sieger-Position und fragte höhnisch, wo denn Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber blieben. Als erster wechselte Edmund Stoiber die Fronten Da brauchten Springers Mannen nicht lange zu warten. Stoiber wechselte als erster die Fronten. Zwar muß festgehalten werden, daß er bereits im Wahlkampf schnellere Steuersenkungen gefordert hatte, aber die Schröderschen Pläne hatte er wegen ihrer unklaren Gegenfinanzierung zunächst abgelehnt. Auch Frau Merkel beantragte plötzlich Springers Steuer-Orden. Nicht ohne Hintergrund: Sie stand plötzlich vor einem Aufstand der Basis in ihrer eigenen Fraktion. Wahlkreisabgeordnete, die noch einen direkten Draht zum Wahlvolk haben, hatten längst registriert, daß die Bürger die hohen Abgaben und Steuern leid sind und entlastet werden wollen. Nach Gegenfinanzierungen wird in den Parteiversammlungen nicht gefragt. Man will mehr netto auf die Hand. Angeführt vom volkstümlichen Abgeordneten Georg Brunnhuber aus Baden-Württemberg wurde die letzte Fraktionssitzung der CDU/CSU vor der Sommerpause zum Protest-Happening. Merkels wenige Freunde meinen noch, der Widerstand habe sich gegen den allzu technokratischen Fraktionsvize Friedrich Merz gerichtet, aber in Wahrheit traf der Protest die gesamte Führung von Merkel über Merz bis zum CSU-Landesgruppenchef Michael Glos. So gab es unvermittelt einen Brief von Merkel und Stoiber an Schröder, der schneller in der Bild-Redaktion als beim Empfänger war. Er enthielt ein klares Bekenntnis zur Steuerreform. Schröder war zufrieden und bot nicht nur via Bild, sondern auch in einer neuen Regierungserklärung der Union die Zusammenarbeit an, die bereits bei der Gesundheitsreform begonnen hat. Einige Unionspolitiker stellen sich die Frage, wie sich die Bürgerlichen der Umarmung des Kanzlers entziehen sollen. Denn sollte der Bild-Druck bleiben, so die Befürchtung zum Beginn der letzten Woche, werde man kaum umhinkönnen, die Steuerreform im Bundesrat nach Schröders Vorgaben durchzuwinken. Nur Roland Koch scheint standhaft zu bleiben Doch Bild wechselt seine Kampagnen noch schneller als Schröder seine Meinung. Kaum hatte der baden-württembergische Ministerpräsident und Christdemokrat Erwin Teufel den Steuer-Orden erhalten, fiel Springers Leuten auf, daß das Vorziehen der Steuerreform nicht nur Vorteile bringt. In großen Schlagzeilen empörte sich das Blatt, daß Alleinerziehende mit Kindern durch Wegfall eines Freibetrages jetzt ein Jahr früher höher belastet werden und dieser nicht gerade kleinen Bevölkerungsgruppe damit netto so gut wie nichts von der Entlastung bleibt. Was Schröder und die Union machen, hat mit seriöser Politik nichts mehr zu tun. Deutschland treibt dem Konkurs entgegen, und die Politiker balgen sich um eine Zeitungsauszeichnung wie Narren um einen Karnevalsorden. Eichels Haushaltsentwurf für 2004 sollte allen Bürgern wirklich zu denken geben. Der Finanzminister geht von einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent aus, was wirklich niemand mehr erwartet. Daher dürften die Steuereinnahmen weit unter den geplanten 201,4 Milliarden Euro bleiben. Schlimmer ist die Neuverschuldung, die Eichel kurzerhand auf 30,8 Milliarden Euro heraufsetzte. Würde die Steuerreform ohne eine Gegenfinanzierung vorgezogen, kämen noch einmal neun Milliarden als Anteil des Bundes an der Neuverschuldung drauf. Eichel, der angetreten war mit dem Ziel, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, dürfte als der Minister in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen, der für die höchsten Schuldenzuwächse verantwortlich ist. Die rot-grüne Koalition hat die Merkel/Stoiber-Union in die Steuerfalle gelockt. Die Oppositionsführung fragt kaum noch ernsthaft, wie die Haushaltslöcher geschlossen werden sollen. Angekündigte Maßnahmen wie die Streichung der Eigenheimzulage, die Kürzung der Pendlerpauschale, ein Subventionsabbau und die Privatisierung von Bundesvermögen wurden von der Koalition bisher nicht konkretisiert. Schröder und Eichel forderten die Union sogar auf, Einsparvorschläge zu liefern, was sie selbst vermieden. Nur Koch scheint standhaft zu bleiben und kündigte sein Nein zu den Steuerplänen an. Sein Verhalten auf der CDU-Präsidiumssitzung ist allenfalls als taktisch zu werten. Dort hieß es, die CDU bekräftige ihre Zustimmung zu einer „seriös finanzierten Steuersenkung“. Daß für Koch eine Finanzierung etwa durch eine Neuverschuldung alles andere als „seriös“ ist, hat er in der Vergangenheit mehr als deutlich gemacht. Der Hesse hat offenbar ein Wort von Franz Josef Strauß für sich abgewandelt: Wer wie Merkel den Zeitgeist heiratet, wird schnell Witwer. Foto: Koch und Merkel als Figuren auf dem Düsseldorfer Karnevalsumzug (2003): „Protest-Happening“

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