Gesellschaftliche Übereinkünfte über monetäre Umverteilungen basieren auf einer stabilen wirtschaftlichen Ausgangslage. Wo diese nicht gegeben ist, stoßen auch die Sozialsysteme an ihre Grenzen. Die Ohnmacht, mit der die deutsche Gesellschaft derzeit wirtschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen gegenübersteht, ist in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar mit der resignierenden Haltung, der sich britische Politiker vor dreißig Jahren in ebendieser Frage ausgesetzt sahen. Die britische Gesellschaft der frühen 1970er Jahre lebte inmitten von maroden Überbleibseln eines untergegangenen Imperiums. Die Pfeiler, auf denen die britische Nachkriegsordnung fußte, gerieten in jener Zeit derart ins Wanken, daß das Wirtschaftswachstum stagnierte, und infolgedessen geriet auch der Sozialstaat unter immer stärkeren Druck. Die herkömmlichen politischen Mittel zur Behandlung der Ursachen dieser Symptome schienen lediglich noch geeignet, den stetigen Niedergang zu verwalten. Tief verwurzelte Probleme waren allein auf dem Wege von Kompromissen, die niemanden wirklich störten, aber auch keinen konkreteren Nutzen hatten, kaum zu lösen. Konsens sei nichts anderes als aufwendig organisierte Verantwortungslosigkeit, spottete Margaret Thatcher, als sie 1979 Premierministerin wurde. Die „eiserne Lady“ betrachtete es zunächst als ihre wesentliche Aufgabe, die Privatwirtschaft zu stärken, das staatliche Monopol bei der Bereitstellung sozialer Dienste zu schwächen und infolgedessen den Haushalt zu konsolidieren. Diese Maßnahmen führten Thatcher auf der einen Seite auf Konfrontationskurs mit den Gewerkschaften. Auf der anderen Seite zeigte sich aber auch bald, daß britische Wirtschaftsunternehmen nun wieder in der Lage waren, schwarze Zahlen zu schreiben. Ab 1983 stellten sich positive Folgen von Thatchers Politik ein. Die Inflationsrate sank wieder auf den Stand von 1970, die Realeinkommen stiegen im Schnitt um 2,8 Prozent, und bis zum Frühjahr 1990 wurden über 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Dominik Geppert beleuchtet den radikalen Wandel der britischen Tories in der Thatcher-Ära. Er beschreibt die Krise handlungsunfähiger Politikinstrumente und die Mutlosigkeit der Verantwortlichen als Symptome einer „britischen Krankheit“, deren Kennzeichen sich mittlerweile ihren Weg nach Deutschland gebahnt hätten. Das deutsche Erfolgsmodell einer Kombination aus Marktwirtschaft und sozialer Sicherheit sei zu einem Modell des deutschen Niedergangs mutiert. Wo Innovation und Strebsamkeit Deutschland einst das Wirtschaftswunder bescherten, herrscht nun die Lethargie inflexibler Arbeitsmärkte und steigender Arbeitslosenzahlen. Die vielen kleinen Eingriffe eines ausufernden Staates veränderten durch die Beschneidung individueller Freiheit auch die Gesinnung der Bürger. Das deutsche Wirtschaftswachstum, im Jahre 2002 das niedrigste in der gesamten Europäischen Union, sieht Geppert als sichtbarstes Resultat solcher Zustände. Geppert, Politologe am Deutschen Historischen Institut in London, nennt in seinem Essay verschiedene tief verwurzelte Ursachen dieser Krise. So sei etwa der Wille nach einer kompromißorientierten Politik, die parteipolitische Gegensätze in Kommissionen miteinander zu vereinen versucht, nur funktionstüchtig gewesen, solange die Übereinkünfte auch tatsächlich zu finanzieren waren. Statt also danach zu streben, durch Konsensgespräche allen politischen Lagern einen bestimmten Nutzen aus Entscheidungen zu bescheren, müsse vielmehr das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Wenn der Einzelne erkennen würde, daß individuelle Opfer den Nutzen der Gemeinschaft langfristig stärken können, sei auch ein Weg aus größeren Krisen möglich. Gerade in diesem Zusammenhang jedoch wäre es wichtig, die Identifikation mit der eigenen Nation zu stärken, um aus den positiven Aspekten der eigenen Vergangenheit eine Kraftquelle zur Lösung neuer Probleme zu finden. Geppert konstatiert allerdings, daß es in der Bundesrepublik Deutschland keine Tradition „aufrüttelnder Rhetorik in Krisenzeiten“ gibt. Der von Geppert angestrengte Vergleich zwischen dem Großbritannien der siebziger Jahre und der heutigen Bundesrepublik ist in vielerlei Hinsicht aufschlußreich und spannend. Er stößt jedoch auch an verschiedenen Stellen an seine Grenzen. Ein vergleichbar komplexes System aus Kontrollinstanzen wie in der Bundesrepublik sei in Großbritannien nicht vorhanden, betont Geppert selbst. Tatsächlich erzwingt die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichtes, das Mitspracherecht der Länder und der aus dem Verhältniswahlrecht resultierende faktische Zwang zur Bildung von Koalitionsregierungen förmlich die Suche nach Kompromissen zwischen politischen Gegensätzen. Nicht ohne Grund scheiterte der eigentlich erfolgreiche Unionswahlkampf des Jahres 1976, als selbst ein Ergebnis von beinahe 49 Prozent der CDU/CSU nicht für einen Sprung auf die Regierungsbänke reichte. Bezeichnenderweise lautete seinerzeit die polarisierende Wahlkampfparole der Union „Freiheit statt Sozialismus“. Christian Anders Dominik Geppert: Maggie Thatchers Roßkur – ein Rezept für Deutschland? Siedler Verlag, Berlin 2003, gebunden, 127 Seiten, 16 Euro