Die beiden Damen liegen fast eine halbe Stunde schon auf den elektronischen Massagesesseln in Halle 3.0. Abwechselnd wölben sich Bauch, Brust und Schulter, vibriert, rüttelt und pocht die Liegefläche die Wirbelsäulen entlang. Aufgeschreckt von einem kleinen Schnarcher, der vorwitzig entfleucht, weckt die eine kichernd die andere. Mit glasig entspannten Augen streckt man sich dezent, schultert die Handtaschen und schlendert an den großen Kalenderstand nebenan. Dort fallen die Blicke der beiden Mittfünfzigerinnen auf das gleiche Objekt, man freut sich der scheinbaren Gedankenübertragung, stößt sich neckisch in die Seiten, hebt das Großformat "Black 2004" vom Haken und bestaunt mit kennerischer Miene und seufzendem "Genial!" die Monatsansichten schwarzer Männerhaut.
Ein Trupp etwa Gleichaltriger ohne derartiges ästhetisches Empfinden hat den City-Roller als Modegag vom Vorvorjahr vom Dachboden gekramt und legt fröhlich damit die mitunter lang werdenden Wege zwischen den Ausstellungshallen zurück. Unmöglich wird diese Fortbewegungsart spätestens ab Freitagnachmittag: Erstmals wurde die Frankfurter Buchmesse schon zu diesem Zeitpunkt für das breite Publikum geöffnet, und schlagartig füllen sich die Hallen, die bis dahin nur den Fachbesuchern vorbehalten waren.
Nicht Dieter Bohlen, sondern Muhammad Ali nimmt diesjährig den weitesten Raum ein, der aufgebaute Boxring ist durchgehend von Fans und Neugierigen umlagert, auch wenn sich dort die meiste Zeit nur Presseleute ihr Stelldichein geben. Soviel Prominenz war noch nie, möchte man meinen, wenn einem binnen eines Nachmittags Heiner Geißler, Peter Glotz, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki und Harry Rowohlt über den Weg laufen. Von "über den Weg Laufen" dagegen kann bei Doris Schröder-Köpf keine Rede sein, wo die Kanzlergattin weilt, schaut und lächelt, sind Legionen von Kamerateams und Wachleuten unterwegs, und eifrige Bedienstete bitten den Messegast an den jeweiligen Knotenpunkten, doch bitte einen anderen Gang zu wählen.
War im Vorjahr die Nachlese zum 11. September deutlicher Themenschwerpunkt der Neuerscheinungen, so bringt dieser Bücherherbst eine auffällige Wende ins ganz Private, zum "Ich" namentlich: Autobiographien, wohin man auch blickt; Michael Schuhmacher über seine Autos, "Naddel" über Bohlen, Woody Allen – bei dem von einem beispiellosen Honorarvorschuß von 500.000 Dollar gesprochen wird – über seine Frauen, Kinder und die Schnittmenge von beidem. Auch Jutta Limbach blickt zurück, streng und milde zugleich schaut sie als großes Ölgemälde auf die Besuchermenge.
Der Ego-Boom der Prominenten und die damit einhergehende Lust des Konsumenten an Belanglosigkeit und Intimschau bringt auch der sogenannten "Vanity-Press" Zulauf. Diese "Eitelkeits"-Verlage suchen dieses Jahr mit verstärkter Vehemenz mittels großer Plakate "Autoren" und Manuskripte, um gegen ein Entgelt, das im Kleingedruckten Druckkostenzuschuß genannt wird, auch das Leben von Lieschen Müller und Opa Schmidt in gebundener Form auf einen Markt zu bringen, dessen Nichtexistenz wohlweislich verschwiegen wird.
Um das zentral aufgestellte "Blaue Sofa" von Bertelsmann, Zeit und ZDF herrscht ein stetiges Kommen und Gehen, wer ohnehin unterwegs ist, bleibt wenigstens rasch stehen, um einen Blick auf Ingrid Noll oder Fritz Kuhn zu erhaschen. Nur mitleidige Herzen verharren gütig auch dort, wo an liebevoll hergerichtetem Kleinstand eine nett wirkende Frau ihre Gedichte über das Weibliche im Baum vorträgt und tapfer mit ihrer Stimme gegen den Dauerpegel in den Hallen ankämpft. Hier und dort hält man mit Interesse, etwa wo Lorenz Jäger seine (unter der Masse an Jubiläumstiteln politisch wohl distanzierteste) Adorno-Biographie vorstellt, oder wo der Rheinische Merkur Emanze Amelie Fried mit dem "Maskulisten" Arne Hoffmann über Mutterbilder diskutieren läßt.
Wo ein Saft am kommerziellen Getränkestand drei Euro fünfzig kostet, ist der Verlag gut beraten, der statt Gummibärchen Flüssiges ausgab, höflich wird beim Schlucken der Stand taxiert, und vielleicht bleibt der Blick ja doch an einem interessanten Titel hängen. Im Kinderbuchbereich verteilt Art-edition so reichlich Kulinarisches, dazu wahlweise roten und weißen Wein, daß sogar die kostenlose und sonst reichlich frequentierte Pixibuch-Ausgabe am Carlsen-Stand nebenan kurz in Vergessenheit gerät.
"Zu wem gehst Du heute abend?" wird hier und dort wichtig über die Gänge gerufen, und wer keine Einladung zu den Parties von Eichborn oder Piper hat, beruft sich verlegen auf seine müden Füße und den wehen Rücken. Nicht ganz so groß, doch sehr fein eingeladen hatten für Freitagabend gemeinsam der Grazer Leopold Stocker Verlag, Junge Freiheit und Edition Antaios. Bei Rotwein und gediegenem Büffet trafen sich Redaktion, Lektorat und Pressekollegen im Frankfurter Westend zum anregenden Gespräch.
Die zu Beginn des Jahres von den Veranstaltern und einigen Ausstellern laut diskutierte Überlegung, die Messe aufgrund der hohen Hotelkosten in München durchzuführen, zeitigte übrigens keine Konsequenzen: Sowohl die Zahl der Besucher (273.000 bis zum Sonntagabend) als auch die der vertretenen Verlage (6.600) ist im Vorjahresvergleich deutlich gestiegen. Das, obwohl wieder eine hohe Zahl der Fachbesucher Übernachtungsgelegenheiten im weiteren Umland zu suchen gezwungen war. Immerhin wurde für 2004 eine leichte Senkung der Standmieten angekündigt.