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Marc Jongen, ESN Fraktion

Im ewigen Karneval

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Seine Gesichtszüge drückten Verachtung aus. Er warf die Flugblätter auf die Tische der Mensa. Die studentischen Gäste unterhielten sich oder schlürften die Suppen, ohne sich um ihn zu scheren. Es schien, als würde er seit über dreißig Jahren diesen Job machen. Dabei hatte er mindestens zehn Vorgänger, die wie er zur Vorweihnachtszeit die Studenten zu Streik und Aufruhr aufgerufen hatten. Alle sahen gleich aus, als hätten sie die Kampfuniform jeweils nur weitergereicht oder aus der Requisitenkammer des AStA entliehen. Ein dunkles Kopftuch, verwegen um den Schädel gebunden, verdeckte die entstehende Glatze und verschönte die ausgefransten Haare. Der Bart besaß immer noch die Konturen der Maske von „Che“. Jeans und Schifferhemd erinnerten an irgendwelche Filmhelden. Die Flugblätter waren vor Ewigkeiten entworfen worden, hatten das gleiche Format und die gleichen Sprüche. Streik, Streik, Streik, ließ sich entziffern, Vollversammlung, Demonstration, Besetzung, Aktionen waren die weiteren Wortsymbole, die durch irgendwelche Floskeln verbunden wurden. Es schien so, als würde das Präsidialamt über den AStA zum Streik aufrufen, um den studentischen Elan aufzustacheln und schnell einzuschläfern. Es gab einige zentrale Demonstrationen, wo die Semesterbekanntschaften aufgefrischt werden konnten. Die studentischen Neuzugänge lernten Berlin und neue Kneipen kennen. Es wurden Revolte und Revolution gemimt. Für Stunden ließen sich Vaters oder Mutters Geschichten von 1968 nachspielen. Verkleidungen und Karneval waren angesagt, Frohsinn, Spaß und Pressefotos. Nach Weihnachten würde das Semester wieder normal verlaufen. Die Präsidialämter der Berliner Universitäten leisteten sich die relativ kostspieligen Allgemeinen Studentenausschüsse, um die Übersicht zu behalten und Radikalisierungen zu vermeiden. Die Aktivisten erhielten für ihr Revolutionsspiel ein bescheidenes Salär und wurden von knapp zehn Prozent der Studenten gewählt. Sie vertraten sich selbst und die „Clique“ und finanzierten dadurch das fortgeschrittene Studium, ohne den Eltern auf der Tasche zu liegen oder sich zu verschulden. Der Alltag war genauso Routine wie der Streikjob. Hauptsache war, es passierte irgendwas, um dann beim Bier darüber schwätzen zu können. An Veränderungen von Universität und Studium war ihnen sowieso nicht gelegen. Irgendwann würden die Spielfunktionäre in einen Job fallen, Taxi fahren, am Ausschank stehen oder vielleicht sogar eine „Firma“ gründen, Pleite anmelden oder bei Verdi anfangen. Einige würden sehr viel später sogar mit der Plastiktüte durch die Straßen ziehen. Es standen schon neue Aktivisten bereit, die die Uniform anziehen würden, um den Job zu machen. Fauler Kompromiß voller Mängel Auf den Vollversammlungen herrschte ein Kommen und Gehen. Happening lag in der Luft. Mann und Frau winkten sich zu. Zusammenhangslose Sätze fielen vom Podium. Sie wurden begleitet von den Füllworten oder dem banalen Gestottere von Leuten, die nicht wußten, wovon sie reden und was sie verkünden wollten. Es galt, nicht hinter den „Stand“ der Aktionen zurückzufallen. Streik war angesagt, weil bereits in anderen Städten gestreikt wurde. Aktionstage wurden angedacht. Ein Fest sollte steigen. Überhaupt herrschte Aufregungen, weil Weihnachten vor der Tür stand und zwei, drei Wochen Rabatz nicht schaden konnten. Keinerlei Fragen wurden gestellt. Konnten Universitäten überhaupt streiken? Gab es nicht einen Unterschied zwischen Fabrik, Verwaltung und Alma Mater? Waren Studenten, die die oberen Ränge von Staat, Kultur, Gesundheit und Bildung erklimmen wollten oder die als hochdotierte Juristen und Naturwissenschaftler arbeiten würden, vergleichbar mit Arbeitern und unteren Angestellten? Selbst die, die an der Universität scheiterten und so etwas bildeten wie das „akademische Proletariat, hatten sie etwas gemeinsam mit der Masse der Arbeitslosen in diesem Land? Hatten sie die gleichen Interessen? Galt es nicht das Studium zu verbessern? War es nicht wichtig, einen Beruf zu definieren oder das Studium anzugleichen an die gesellschaftlichen Anforderungen? Konnte die Gesellschaft über die Universitäten verändert werden? War die Universitäts- und Bildungspolitik von Senat und Parteien sinnvoll? Mußte nicht der Protest genutzt werden, von studentischer Seite Perspektiven zu finden, Forschung und Lehre zu reorganisieren? Mußten nicht Gespräche aufgenommen werden mit den Professoren und Dozenten, um über die unhaltbaren Ausbildungs- und Forschungsbedingungen an der Universität zu befinden? Mußten nicht Vergleiche gezogen werden zu den Bildungsprogrammen anderer Länder? War es nicht wichtig, sich über Seminare und Vorlesungen über all die Fragen zu informieren? Waren Streiks nicht deshalb kontraproduktiv, sinnlos und eher Anzeichen von Ratlosigkeit? Es ist auffällig, daß die aktiven Studenten eine Universität verteidigen wollen, die als fauler Kompromiß zwischen den Parteien eingerichtet worden und voller Mängel war. Lediglich gegen die „Studiengebühren“ erhebt sich der Protest, als seien die Qualität der Lehre, die Nachfolge der Professoren und Dozenten, die Verfahren der Prüfung, die Zugänge zur Forschung, die Betreuung der Arbeit durch die Dozenten durchaus anerkennenswert. Wieso vergreisten die Professoren und fehlte der wissenschaftliche Nachwuchs? Mit Paukenschlag ziehen die jungen Frauen und Männer durch die Straßen und rufen rhythmisch „Stamokap, Stamokap“, so als würden sie einen neuen Tanz zelebrieren. Über den Zusammenhang von Bildung und Wirtschaft wird auf den Versammlungen kein Wort verloren, werden die Phrasen über die „Globalisierung“ nicht gezählt. Die Parodie auf die Achtundsechziger-Revolte trägt deshalb heute keinerlei Zusammenhang zwischen der Gegenwart und den Anstrengungen damals, eine Universität neu zu gestalten. Zwischen den Linksstudenten und den konservativen Professoren bestand in den späten sechziger Jahren kein Streit darüber, daß die Ordinarienuniversität verändert werden mußte, um das Studium den technologischen und sozialen Anforderungen anzupassen. Es wurde auch nicht darüber gestritten, daß Reformen an den Universitäten Veränderungen in der Gesellschaft freisetzen würden. Es gab nicht einmal einen Hader darüber, daß an den Forschungsinstituten die Kooperation zwischen Professoren, den unterschiedlichen Typen von Assistenten und den Studenten im Abschlußsemester Voraussetzung war für die erfolgreiche Arbeit, weil die unterschiedlichen Kategorien von Wissenschaft sich ergänzen mußten und die Rechthaberei der „Autoritäten“ kontraproduktiv sein konnte. Die demokratische Legitimation ging verloren Der Widerspruch entzündete sich daran, wie weit eine Universität demokratisiert werden konnte und wieso eine demokratische Universität als eine „Revolution von oben“ Schulen, Gymnasien, Fachschulen und später Verwaltungen und Fabriken verändern sollte. Die Linksstudenten stellten sich auch die Frage, welche neuen Wissenschaftsinhalte an die Universität zurückgebracht oder eingeführt werden konnten. Deshalb entstanden an den Universitäten Kritische und Gegenuniversitäten und es sah so aus, als wenn die unterschiedlichen Initiativen die Universität und zugleich die Gesellschaft zerreißen würden. Dadurch ging der Dialog zwischen Professoren und Studenten in die Brüche. Sehr schnell zeigte sich, daß die konservativen Professoren recht hatten. Eine Universität als Lehranstalt ließ sich nicht „demokratisieren“. Studenten als Auszubildende, die nur kurzfristig an der Universität waren, waren gar nicht fähig, über langfristige Strukturpläne oder über den Inhalt von Forschung und Lehre zu entscheiden. Es war auch unmöglich, die Universität zum „locus“ der Revolution umzufunktionieren. Die anderen Dienstkräfte hatten nur bedingt Einblicke in die komplizierten Prüfungs- und Lehrverfahren. Die Professoren waren oft gute Lehrer und Wissenschaftler und vermochten jedoch nicht, die Universität als Anstalt und Behörde zu verwalten. Sehr schnell wurden die Gremien der Drittel- und Viertelparität durch universitätsfremde Gruppen okkupiert, oder Parteien verfremdeten den Campus zum Feld eigener Interessen. Lediglich die Personalräte konnten halbwegs arbeiten. Die Demokratisierung der Universität zerrann insgesamt in Chaos und Kleinkrieg. Sie wurde durch die Einsprüche des Bundesverfassungsgerichts und durch die Parteien neu geregelt. So entstanden Massenuniversitäten, die durch eine hierarchische Administration zusammengehalten wurden und deren innere Ordnung durch Partei- und Wirtschaftsinteressen hergestellt wurde. Die demokratische Legitimation der Großbehörden ging verloren. Nur eine Minderheit von Studenten interessiert sich heute für die AStA-Wahlen. Die anderen Funktionsgruppen sind ähnlich desinteressiert an einer „Selbstverwaltung“. Im Schatten des Zentralmanagements der Präsidialämter blühen Intrigen und Machenschaften der unterschiedlichen Seilschaften. Anpassungswillige Studenten bevölkern den Campus Die Studenten der Revolte gehörten damals noch zu einer universitären Elite. An der Freien Universität Berlin studierten etwa 12.000 Studenten. Die einzelnen Fakultäten waren übersichtlich, jeder kannte jede und umgekehrt. Niemand hatte die Befürchtung, keinen akademischen Beruf zu finden. Der „Utopismus“ der Revolteure aus dem alten Bürgertum stammte aus der maßlosen Selbstüberschätzung und war nicht selten Ergebnis einer guten Bildung. Dieser Typus des mittelständigen Studenten, der ein Selbstbewußtsein von Elite oder Beruf besaß, existiert inzwischen nicht mehr. Primär anpassungswillige Studenten aus dem undefinierbaren Milieu der Auf- oder Absteiger bevölkern heute den Campus. Über die sozial-liberale Koalition verwirklichte die Sozialdemokratie ihr Programm der allgemeinen Bildung. Neue Schichten wurden an die Universität geholt. Frauen, aber auch den Leuten vom „dritten Bildungsweg“ wurde der Zugang ermöglicht oder erleichtert. In der Wirtschaftskrise zu Beginn der siebziger Jahre wurde die Bildung und hier besonders die Universität zum Mittel genommen, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Arbeitslosenstatistik zu schönen. Bis zu 50 Prozent der einzelnen Jahrgänge wurden an die Universität gebracht, ohne daß die Beförderten eine innere Haltung zu dieser Bildungseinrichtung entwickelten. Universität wurde Massenanstalt in einem zweifelhaften Sinn. Massenanstalt in einem zweifelhaften Sinn Die neuen Dozenten waren auf ihre professorale Aufgabe sowenig vorbereitet wie die Studenten, die in die Wissenschaft eingeführt werden sollten. Die Universität wurde zur „Bewahranstalt für arbeitslose Jugendliche mit Abitur“. Die Dozenten wurden mehr und mehr zu Sozialarbeitern, Entertainern oder zu Animateuren. Fast 60 Prozent der Studenten schafften ihre Examen nicht, wechselten das Studium oder brachen ab. Die Lehre hielt nicht Schritt mit den Veränderungen der Gesellschaft und dem Wechsel der Berufe. Die Forschung trug nur noch bedingt den technologischen und sozialen Umwälzungen Rechnung. Die Großräumigkeit verhinderte Diskussionen und Aussprachen und erleichterte bürokratische Eingriffe. Die Parteien regierten in die Universitäten direkt hinein und nahmen ihnen die Autonomie und Selbstverwaltung. Sie mischten sich ein, um Berufungen zu manipulieren, den Zugang zu erweitern, das Lehrprogramm festzustellen, und entfernten dadurch diese „Bewahranstalt“ von den Aufgaben von Lehre und Forschung. Universität sollte weder die Stätte von „Revolte“ sein, noch sollte sie Gesellschaftskritik verbinden mit Initiativen, die den Horizont von Parteipolitik überstiegen Ein fataler Dilettantismus in allen Bereichen machte sich breit. Erst die Kostenexplosion brachte die Politiker dazu, Studiengebühren einzuführen und die Universitäten personell auszudünnen. Jetzt wurden aus Kostengründen die Modelle in Großbritannien und USA interessant, die das Studium anders gewichteten. In Deutschland wurden die Schlagworte übernommen, um Master- und Bachelor-Abschlüsse zu erproben. Die vielen Abbrecher sollten sich nun wenigstens mit einem Grundstudiumsschein bei den Firmen und Verwaltungen bewerben können. Nicht diskutiert wurde die Überlegenheit des Bildungssystems der USA gegenüber Deutschland in bezug auf die unterschiedlichen Typen von Universität und in der Begrenzung ihrer Größe und Forschungsinhalte. Massenuniversitäten bleiben unproduktiv, weil die unterschiedlichen Fachbereiche und Lehreinheiten nur schwer koordiniert werden können und der Bürokratismus der Maßregeln überwiegt. Kleine Universitäten, die gleichzeitig hoch spezialisiert sind, unterschiedlichen Interessen folgen, bestimmte Studenten, aber auch Professoren anziehen, die kontrollierbar sind und gleichzeitig flexibel auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt reagieren, bilden in den USA die Grundlage der Konkurrenz der Universitäten. In Boston etwa existieren 89 Universitäten der unterschiedlichen Ansprüche und Fachkompetenzen. Die Kolosse in Deutschland lassen sich auch „spieltheoretisch“ nicht verändern. Sie bleiben unbewegliche Ungeheuer, die an der Zeit vorbei qualifizieren. Darüber zu diskutieren, wäre sehr viel interessanter gewesen, als den „Stamokap“ zu tanzen oder sich im ewigen Karneval der Streiks zu amüsieren. In dieser Hinsicht ist der Streik passend für eine Universität, die ihr Selbstverständnis aus Marketing-, kuriosen Evaluierungsprogrammen oder spielerischen Entwürfen bezieht.

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