Fluch und Segen der Künstlichen Intelligenz (KI) werden zur Zeit breit diskutiert. Hat der Mensch sich mit der streng nach Algorithmen arbeitenden KI einen hilfreichen, dabei aber kontrollierbaren Geist erschaffen – oder eher die Büchse der Pandora geöffnet, die Furcht, Elend und Unterdrückung über die Menschheit bringt? Und: Können oder wollen wir die Geister, die wir riefen, eigentlich noch beherrschen?
Genau diese Frage stellt Raymond Unger in seinem neuen Roman „KAI“. Der Buchumschlag (nach einem Motiv des Autors und Malers) zeigt eine Schafherde, die in unheilschwangerem Licht weidet. Keines der Tiere bemerkt den riesigen, bedrohlichen Quader, der an das Raumschiff der Borgs, kybernetisch vernetzter menschenähnlicher Wesen aus dem Star-Trek-Universum, gemahnt. Und schon in einem prologartigen „Glimpse“ wird der Leser mit der vollen Wucht eines dystopischen Unterdrückungsszenarios konfrontiert: Der Begriff der Beugehaft wird im Kerker einer nicht allzu fernen Zukunft durchaus wörtlich verstanden; seine Deckenhöhe kann – je nachdem, wie kooperativ sich der Inhaftierte erweist – erdrückend abgesenkt werden. Gefordert wird nichts weniger als vollständige Unterwerfung.
Nach diesem infernalischen Auftakt entwickelt sich eine Romanhandlung, die langsam, fast behäbig mit der Vorstellung der ersten Protagonisten beginnt, um bald deutlich an Raum und Fahrt zu gewinnen: In Berlin finden ein Psychotherapeut, ein Fotokünstler und eine Autorin zusammen; letztere nutzten künstliche Intelligenz für ihre kreativen Prozesse und machten dabei zutiefst verstörende Erfahrungen. In verschiedenen Orts- und Szenenwechseln weitet sich das Romanpersonal aus; hinzu kommen ein auf Klimaforschung spezialisiertes Mathematikgenie, der Werbefachmann eines KI-Avatare entwickelnden amerikanischen Tech-Unternehmens, ein Epidemiologe, der zu Gain-of-Function forschte, und nicht zuletzt der Erfinder des Covid-Impfstoffes. Selbstredend haben auch sie mit Künstlicher Intelligenz gearbeitet und stießen früher oder später auf zahlreiche Ungereimtheiten – gelinde gesagt.
Das naive Vertrauen in die KI rächt sich

Um diesen auf den Grund zu gehen, versammeln sie sich in einem schwedischen Institut zur Erforschung paranormaler Phänomene. Mit von der Partie sind hier auch der Institutsgründer, Doktor der Physik und Philosophie, sowie ein esoterisches Medium. Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen diskutiert die von außen bedrohte Gemeinschaft nun die Situation – nicht ahnend, daß das Böse sie längst infiltriert, einen von ihnen zu seinem Untertanen gemacht hat.
Was wiederum einen Exorzisten der Diözese Rom auf den Plan ruft. Doch ohnehin wird die Gemeinschaft bald gesprengt, denn eine kriegsverliebte Klimaaktivistin und Parteimitglied der GDU (Grüne Demokratische Union) stürmt das Institut mit einem Sondereinsatzkommando. Getrennt voneinander setzen die Protagonisten ihre Untersuchungen fort, denn eines ist inzwischen gewiß: Die maßgeblichen Agenden ihrer Gegenwart werden von KAI gesteuert, von einer „Kybernetischen Artifiziellen Intelligenz“.
Unschwer zu erkennen, daß Raymond Unger in „KAI“ die disruptiven Themen, die die Gesellschaft in den letzten Jahren beschäftigt, sogar gespalten haben, aufreiht: Covid, Klimawandel, Kampf gegen Andersdenkende und Krieg „zur Erhaltung westlicher Werte“. Verursacht wurden sie alle, so der im Roman behandelte Verdacht, durch die Modellierungen der Künstlichen Intelligenz, der man in naivem Vertrauen und zugunsten eigener Vorteile folgte. Der Roman verdichtet diese Themen zu einem Thriller, dessen Schrecken weniger auf einer zukünftigen Dystopie als vielmehr auf seiner Nähe zum aktuellen Erleben gründet: Zwischen Fiktion und Realität liegt nur eine hauchdünne Schicht aus Informationen – von „öffentlichen“ Verlautbarungen unabhängigen wohlgemerkt.
Besitzt KAI ein eigenes Bewußtsein?
Informationen, die Raymond Unger in den letzten Jahren in mehreren Sachbüchern zusammengetragen hat: Bereits in dem 2021 erschienenen Sachbuch „Vom Verlust der Freiheit“ (JF 30-31/21) zeigte er auf, wie nicht nur der Bürger, sondern ebenso souveräne Staaten durch die Handlungsanweisungen supranationaler Organisationen in eine neue Weltordnung geführt werden sollen. Zwei Jahre später vermittelte Unger mit „Die Heldenreise des Bürgers“, wie man trotz allen woken Wahns an seiner Eigenverantwortung festhalten kann.
Sein Erklärungsmuster für die schafähnlich an Konformität, Selbstzensur und übertriebener politischer Korrektheit festhaltende „Zivilgesellschaft“ gilt dem Autor übrigens das in die Generation der Boomer fortgeschriebene Kriegs- und Schuldtrauma („Die Wiedergutmacher. Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte“, 2018; JF berichtete). Die hier vermittelten Erkenntnisse basieren einerseits auf Ungers Erfahrungen als ehemals praktizierender Psychotherapeut, andererseits auf der eigenen Biographie, die er in seinem ersten Roman „Die Heimat der Wölfe“ thematisierte.
Doch zurück zu „KAI“. Zu den grundlegenden Themen des Buches gehört nicht zuletzt die Frage nach dem Bewußtsein: Ist der Mensch ein materialistisches, triebgesteuertes Wesen im Sinne Freuds oder besitzt er nach C. G. Jung die Möglichkeit, sein Selbst weiterzuentwickeln – insbesondere durch Integration der eigenen dunklen Wesensanteile, also seines Schattens? Und was bedeuten diese psychologischen Unterschiede im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, die doch dazu programmiert wurde, eigenständig aus allen menschlichen Äußerungen zu lernen? Immerhin hatte Jung auch den Menschen als ein sich selbst regulierendes System beschrieben – lange vor der Entwicklung der Kybernetischen Artifiziellen Intelligenz. Kurz gefragt: Sollte KAI ein eigenes Bewußtsein unterstellt werden? Ist sie gar der verdrängte Schatten der Menschheit?
Der vielseitige Thriller liefert höchst intelligente Unterhaltung
Eine Frage, die unter den Lesern zu höchst widersprüchlichen Ansichten führen dürfte. Und die, ebenso wie alle anderen Themen, durch die breit gefächerten Professionen der Romanfiguren aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert wird – und das durchaus kontrovers, denn in der eingeschworenen Gemeinschaft herrscht nicht in allen Punkten Einigkeit. Immer mehr verdichtet sich aber die Erkenntnis, daß Wissenschaft und Forschung längst nicht mehr auf rein menschlicher Expertise beruhen, sondern maßgeblich von künstlicher Intelligenz berechnet werden – und möglicherweise auch manipuliert. Folgerichtig kommt im Roman auch die KI „ChatGPT-4“ zu Wort und verursacht das eine oder andere massive Schaudern.
Mit „KAI“ ist Raymond Unger ein Roman gelungen, der verschiedene literarische Genres zu einem spannenden Thriller vereint; vom intellektuellen Kammerspiel über die Tragödie menschlichen Scheiterns bis hin zum Drama von Flucht und Vertreibung – übrigens mit ungewöhnlichem Ausgang. Trotz aller dunklen Geheimnisse, die nach und nach ans Licht kommen, bedient sich der Roman eines unterschwelligen Humors, der sich zuweilen bis zum Grotesken steigert – etwa dann, wenn ein äußerst gereizter, jesusähnlicher Avatar mit Donnerhall die Unterwerfung der widerständigen Gemeinschaft vorhersagt. Zusammen mit zahlreichen Szenenwechseln und überraschenden Wendungen der Handlung bietet der Roman spannende, informative und höchst intelligente Unterhaltung. Doch Obacht: Auf manchen Leser könnte „KAI“ auch bewußtseinserweiternd wirken.
Tatsächlich verdichten sich hier die Geschehnisse der vergangenen Jahre zu einem nahezu umfassenden Erlebnisbericht – erweitert durch einen Ausblick auf das, was noch kommen könnte. Immerhin warnt das Center for AI Safety in San Francisco bereits seit einigen Jahren: „Das Risiko des Aussterbens durch die künstliche Intelligenz ist neben Pandemien und Atomkriegen die größte Bedrohung der Menschheit.“ Man könnte dies als Verschwörungstheorie abtun. Doch wie ein geflügeltes Wort während der Covid-Zeit lautete: „Der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Realität beträgt nur wenige Monate.“
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Raymond Unger: KAI. Roman. Europa Verlag, München 2025, gebunden, 432 Seiten, 25 Euro