Cherson ist eine südukrainische Oblast (Region) am Unterlauf des Dnipro: zwischen Schwarzem Meer und Asowschem Meer, nördlich der Krim, angrenzend an die Oblaste Mykolajiw und Saporischschja. Die gleichnamige Hauptstadt liegt am rechten (westlichen) Ufer des Dnipro nahe der Mündung. Vor dem russischen Großangriff lebten in der Region rund eine Million Menschen, in der Stadt selbst etwa 280.000. Cherson ist mehrsprachig geprägt: Viele Bewohner sind russisch- oder zweisprachig aufgewachsen.
Mit dem Einmarsch russischer Truppen begann in der besetzten Stadt rasch ein stiller, aber harter Widerstand. Netzwerke von Bürgern beobachteten Kolonnen, dokumentierten Stellungen, leiteten Koordinaten weiter. Es gab immer wieder Sabotage und Anschläge gegen die Besatzer. Demonstrationen wurden niedergeschlagen, doch die Stadt blieb widerspenstig. Als die ukrainischen Streitkräfte Cherson im November 2022 befreiten, brach die angestaute Spannung in Jubel um: Fahnen, Tränen, Umarmungen – eine spontane Volksfeier unter offenem Himmel.
„Welche Befreier zielen mit Gewehren auf Zivilisten?“
Vor diesem Hintergrund stehen die Stimmen von Larisa und ihrem Sohn Denys, beide aus Cherson stammend, beide russischsprachig. In den letzten Sommertagen des August 2025 sitzen sie bei einem krimtatarischen Café in Kiew und erzählen von ihren Erlebnissen. Denys war bei Kriegsbeginn in Kiew, arbeitete als Texter und zeitweise als Fixer für ausländische Journalisten, die auf der Suche nach einer guten Story sind; später holte er seiner Mutter aus der Besatzung – im August, mit einem Fahrer, dem man trauen konnte und der sie über Stolperpfade aus der Stadt schmuggelte. Eine waghalsige Aktion.

Am Morgen des 24. Februar klingelte bei Larissa das Telefon. Ihr Sohn Denys rief aus Kiew an. Er sagte nur leise: „Mama, der Krieg hat begonnen.“ In Cherson sei es zunächst „noch ruhig“ gewesen, die Kolonnen erst im Anmarsch, erzählt sie. Doch die Entscheidung fiel innerhalb von Minuten: Bargeld holen, Grundnahrungsmittel und Medikamente besorgen, „und dann irgendwie weiterleben“. Vor Banken und Tankstellen bildeten sich Schlangen, aber Panik? „Ich würde nicht sagen. Viele verstanden gar nicht, was da gerade losging.“
Schon früh sei in Cherson etwas Unheimliches spürbar gewesen: „Menschen in Zivil, aber keine von hier, kamen. Man sah es in den Gesichtern, in der Art, wie sie gingen, wie sie blickten – es waren Fremde.“ Manche seien wohl aus der Krim gekommen. Cherson kannte diese Besucher vor 2022 – für Pässe, Einkäufe, Medikamente –, „aber diesmal war es anders“. Denys ergänzt, daß man an der Wesensart der Besucher schon erkannte, daß sie keine Einheimischen seien. „Chersoner haben ein helles Gemüt, die Neuen waren finstere Gestalten“, sagt er und dreht sich dabei eine Zigarette. Der Verdacht lag nahe, daß es sich dabei um Einflußagenten und Infiltratoren handelte.
Identität: „Russischsprachig – und ukrainisch“
Anfangs, so Larisa, habe die zuerst einrückende Rosgwardija einen „korrekten“ Eindruck erwecken wollen. „Groß, blauäugig, adrett, ‚kulturell‘, sagten Danke, bezahlten am Obststand.“ Gleichzeitig drückten dieselben Männer Gaspedale von Militärfahrzeugen durch und rasten in Menschenmengen, ließen Fensterscheiben aus Wohnhäusern fliegen und schossen auf Ukrainer auf der Straße. „Groß und gutaussehend“, seien sie gewesen, ergänzt Denys leicht sarkastisch. Aber die nette Fassade hielt nicht lange.
Die Propagandabehauptung aus Moskau, man sei gekommen, „russischsprachige Brüder zu befreien“, prallte in Cherson rasch an der Wirklichkeit ab. „Als die Kolonnen reinkamen, saßen zehn, zwölf Mann oben auf den Schützenpanzern, die Waffen auf die Leute gerichtet“, sagt Larisa. „Welche Befreier zielen mit Gewehren auf Zivilisten? Welche Befreier walzen an Kreuzungen Autos und Menschen weg?“ Fensterläden wurden eingeschlagen, Büros und Ämter geplündert – sogar die Steuerverwaltung.
„Sie gingen die Häuser ab, suchten gezielt nach Personen: Veteranen, Aktivisten, Militärärzte.“ Ein Nachbar, erzählt Larisa, war jahrzehntelang Chefarzt im Militärhospital gewesen. „Er war längst tot, aber sie kamen trotzdem, weil er auf ihren Listen stand.“ Denys schiebt nach, daß es in der Stadt wahrscheinlich über Jahre Agenten und Kollaborateure gab, die Listen für die Russen angelegt hatten – nicht alle waren aktuell. Eine Kollegin habe auf dem Balkon mit dem Morgenkaffee gestanden, erzählen die beiden. Russische Soldaten holten sie ab. „Spionageverdacht, nur weil sie vom Balkon schaute“, erklärt Larisa mit überzeugter Miene.
Kollaboration, Humanitäres, Verweigerung
Larisa beschreibt sich als „russischsprachige Ukrainerin“, geboren in der Sowjetzeit. „Cherson war immer Ukraine – ist und wird es bleiben“, sagt sie vehement und man hört den Schmerz in ihrer Stimme. Denys nickt zustimmend und fügt ein: „Ich habe mir oft die Frage nach Identität gestellt, nicht zuletzt, als ich in Spanien lebte. Ich bin ein russischsprachiger Ukrainer, in der Sowjetzeit geboren: Ich betrachte mich als Ukrainer, auch wenn Russisch meine Erstsprache ist. Meine Mutter spricht Russisch, aber meine Großmutter und deren Mutter sprachen noch Ukrainisch. In Cherson wurde nie ernsthaft darüber geredet, daß wir ‚zu Rußland gehören‘ oder eine ‚russische Region‘ seien – Cherson war immer Ukraine, vielleicht anders als andere Landesteile, aber dennoch Ukraine. 2014, als die Revolution in Kiew begann, war das Lenin-Denkmal in Cherson eines der ersten, das von den Leuten auf dem Zentralplatz gestürzt wurde. Und wir Chersoner konnten immer erkennen, wenn irgendwo ein kleines ‚Wir wollen zu Rußland‘-Treffen stattfand: Das waren keine Einheimischen, das waren Fremde. In meiner Erinnerung gab es in Cherson nie eine große Debatte, russisch sein zu wollen – nie.“

Im September 2022 inszenierte die Besatzungsmacht ihr „Referendum“. Larisa öffnete niemandem die Tür: „Bewaffnete gingen von Wohnung zu Wohnung. Viele machten gar nicht erst auf.
Widerstand im Verborgenen
Gab es Menschen, die pro-russisch waren? Auf diese Frage hin kommt ein kurzes Zögern von Larisa, dann nickt sie. „Ein paar. Vor allem Ältere, die für die Kamera am Platz Hilfspakete holten.“ Auf den Kartons: ukrainische Marken. „Sie drehten die Logos nach innen, damit man es nicht sah.“ Eine Bekannte habe sich tatsächlich einen russischen Paß geholt. Insgesamt waren es jedoch wenige. Ein Nachbar sagte ihr einmal offen: „Ich bin Separatist. Unsere Leute kommen, dann wird alles anders. Dann wird das hier alles russisch sein und gut werden“ Larisa rümpft dabei nur die Nase und sagte, daß sie ihn fragte, ob er sich da wirklich sicher sei und das ernst meine.
Denys wirft ein, die Stadt selbst – die sich rechts des Flußlaufes befindet – sei durch die Ukrainer befreit, und so gäbe es noch „viele auf der linken russisch besetzten Dnipro-Seite“, die bis heute keinen russischen Paß nehmen: „Sie warten auf die Ukraine.“
Nachdem die ersten Demonstrationen im März 2022 noch stattfanden, begann die russische Besatzungsmacht in Cherson kurz darauf mit brutaler Repression. Es kam zu Erschießungen, Massenverhaftungen und Folter. Aus Kellern und Hinterhöfen speisten Chersoner Lagebilder in die ukrainische Aufklärung: Koordinaten, Marschrouten, Kolonnenstärken. „Es gab viele, die halfen – leise“, sagt Denys.
Am Ende bleibt die Hoffnung
Die Stadt wehrte sich erst öffentlich; Straßen wurden mit Menschenketten blockiert. Später, als das offene Protestieren lebensgefährlich wurde, blieb die unsichtbare Arbeit. Gerade in Cherson hatte Rußland mit erheblichen Rebellenaktivitäten zu kämpfen. Es gab Sabotage, Attentate und Anschläge. Auch im Vorfeld der ukrainischen Offensive zur Rückeroberung der Oblast, bestand ständiger Kontakt zwischen Widerstandskämpfern und dem ukrainischen Militär.
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Am 11. November 2022 kam der Moment, auf den sie gewartet hatte. Die russischen Einheiten zogen sich aus der Stadt zurück. Die Okkupation endete und die ukrainische Armee wurde mit Blumen, Menschenketten, blau-gelben Fahnen und Freudentränen empfangen.
Warum sie Cherson liebe? Larisas Augen glänzen leicht bei dieser Frage und sie holt tief Luft. „Unser berühmter Wassermelonengürtel – einmal biß ich wieder in unsere Melone, und der Geschmack war sofort da: Zucker, der in der ganzen Frucht glitzert. Es ist eine kleine, gemütliche, schöne Stadt. Grün, voller Blumen. Normale, angenehme Menschen. Unsere Meere – Schwarzes Meer, Asowsches Meer. Das größte Naturschutzgebiet Europas: Askania-Nova. Salzseen mit höherer Konzentration als im Toten Meer. Wälder, Ebenen. Unser Dnipro.“ Sie hofft und ist davon überzeugt, daß alles wieder gut werden wird.
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