Der polnische Bestsellerautor Szczepan Twardoch hat einen Roman über den Ukraine-Krieg geschrieben, der in den Feuilletons unisono als ein Meisterwerk gefeiert wurde. Das ist freilich zutreffend, auch wenn diese Begeisterung oft auf politischen und nicht literarischen Motiven beruht. Denn Twardoch steht für das Establishment auf der richtigen, der ukrainischen Seite der Geschichte. Viele Male begab er sich selbst an die Front, lieferte Material, saß im Schützengraben, erlebte Beschuß. Dennoch hat er keinen Anti-Rußland-Roman geschrieben.
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Im Zentrum steht der Krieg selbst und die Menschen, die in ihm kämpfen oder leiden. Ideologie und Geopolitik spielen keine Rolle. „Nulllinie“ ist ein Meisterwerk, weil es ästhetisch und erzählerisch Maßstäbe setzt und zu Recht bereits mit den großen Kriegsautoren Ernst Jünger und Ernest Hemingway in einem Atemzug genannt wird.
„Früher oder später sterben wir beide“
Erzähler des Romans ist der Pole Koń, 45, Drohnenpilot, Historiker, der sich freiwillig gemeldet hat. Die Gründe für diese Entscheidung bleiben zunächst im Unklaren, da er immer wieder betont, daß ihm das Schicksal der Ukraine völlig gleichgültig ist. Zu Beginn des Romans finden wir Koń zusammen mit einem Kameraden im Keller eines zerstörten Hauses links des Dneprs irgendwo im Oblast Cherson.
Als Teil eines Brückenkopfes in russisch kontrolliertem Gebiet sind sie von den eigenen Truppen abgeschnitten. Die Todesangst ist allgegenwärtig: „Ein Treffer in eure Grube, und ihr seid beide tot. Früher oder später sterben wir beide, wird doch niemand das Kriegsende erleben, also was für ein Unterschied, denkst du, aber du belügst dich selbst, Koń. Es macht einen Unterschied.“
Twardoch hat sich für einen Du-Erzähler entschieden, eine seltene, aber in „Nulllinie“ höchst effektive Erzählperspektive. Wer ist dieser Du-Erzähler? Die naheliegende Antwort scheint zu sein Koń selbst, der Distanz benötigt, um den eigenen permanenten existentiellen Ausnahmezustand erzählen und reflektieren zu können. Auf jeden Fall bewirkt diese Perspektive eine direkte Adressierung des Lesers, was nicht zuletzt die beeindruckende Unmittelbarkeit der Handlung ausmacht.
Ukraine-Soldaten nennen sich selbst „Fleischeinlage“
Die Sprache des Romans ist brutal und rauh. Sich selbst bezeichnen die Soldaten als „Fleischeinlage“, Teil der „Fleischwolfinfanterie“ oder „lebende Zweihunderter“. Zweihunderter ist ukrainischer Militärsprech für gefallene Soldaten. Die Russen werden als „Russacken“ beschimpft.
Die Erzählung wechselt zwischen dem Kämpfen und Sterben an der Front und Rückblenden, die das Schicksal Końs und einiger anderer Charaktere offenbaren. Schabla, ein von Koń bewunderter idealtypischer Kämpfer und Kamerad. Jagoda, der nach 2014 mehrere Monate in russischer Gefangenschaft verbrachte und sich davon nie mehr erholt hat. Und vor allem Końs Geliebte Zuja, deren Vergewaltigung zu Beginn des Krieges 2022 drastisch geschildert wird, wobei sich das Schlimmste allerdings nur in Andeutungen erschöpft, was das Grauen noch schockierender vermittelt. Vergewaltigt wird Zuja von Ukrainern, was zeigt, daß sich der Roman einer einseitigen Einordnung entzieht.
Krieg, Kampf und Sterben stehen in unterschiedlicher Intensität im Zentrum aller Romane Szczepan Twardochs. Dabei verbindet er zumeist das Schicksal Polens im allgemeinen und seiner Heimat Oberschlesiens im besonderen mit den großen Umbrüchen des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Er sei kein Pole, sondern Oberschlesier, betont er immer wieder.
Gerade in „Drach“ (2016) und „Demut“ (2022) zeigt Twardoch, daß er wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor in der Lage ist, das Schicksal von einzelnen mit bedeutenden historischen Entwicklungen zu einem mitreißenden großen Ganzen zu verbinden. „Nulllinie“ paßt in diese Reihe, auch wenn er nun erstmals einen noch andauernden Krieg literarisch bearbeitet. Allein die letzten unfaßbar intensiven Seiten des Romans, immer und immer wieder gelesen, erscheinen doch verdammt nah dran an den Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod an der Front.