Georg Wilhelm Friedrich Hegel formulierte in der Vorrede seiner Rechtsphilosophie das klassisches Diktum: „Die Eule der Minerva beginnt am Abend ihren Flug.“ Er meinte damit, daß immer erst am Ende einer Epoche ihre Konturen sichtbar werden. Das vorliegende Buch ist möglicherweise die Anwendung dieses berühmten Satzes auf das Ende des liberalen Zeitalters, auch wenn Wolfgang Kubicki es statt mit der Eule lieber mit Phoenix halten möchte, der aus der Asche der letzten Bruchlandung wie-der in den Himmel steigen soll.
Ein wenig kommt diese Mischung aus Eule und Phoenix auch im Titel des vorliegenden Buches zum Ausdruck. Er lautet „Aufwind im freien Fall“, was dem Leser eigenermaßen verblüfft zurückläßt.
Kubicki zeigt, wie wichtig liberaler Fokus wäre
Kubicki aber ist guter Dinge, will im „freien Fall“ den „Aufwind“ spüren und macht sich daran, die Chancen der Krise auszuloten. So präsentiert er im ersten Kapitel des vorliegenden Buches eine schonungslose Bestandsaufnahme Deutschlands, benennt im zweiten Kapitel die Verantwortlichen für den Niedergang, um im dritten Kapitel eine „liberale Positionsbestimmung“ vorzunehmen, der im letzten Teil des Buches fünfzehn credoartige „Freiheit, die ich meine„-Postulate folgen.
Liest man dieses Credo aus Marktwirtschaft und Freiheit in Reinkultur, mag mancher denken: Diese Partei will ich wählen. Ihre Maximen sind nachvollziehbar kommunikativ, tolerant und am Machbaren orientiert. Und auch Kubickis Kritik am rotgrünen Regierungshandeln kann man nur von Herzen zustimmen.
Mit der Kenntnis des Insiders kritisiert der Autor die politisch einseitige und inkompetente Amtsführung der Innenministerin Nancy Faeser, die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Presseverbote und Denunziationsportalen, die staatlichen Übergriff während der Corona-Pandemie, das Versagen in der Migrationspolitik, die aberwitzige „feministische Außenpolitik“ und last not least das bedauerliche Versagen des Bundespräsidenten in der Stunde des Spaltung.
Gerade diese Kritik beweist, wie notwendig ein liberaler Fokus angesichts der politischen Herausforderungen der Gegenwart wäre. Hätte sich diese Kritik beizeiten geltend gemacht, sähe es im Land heute anders aus. Aber leider hat sie das nicht.

Die FDP folgte dem Mainstream
Was zu der Frage überleitet: Warum nicht? Wie war es möglich, daß sich die FDP sich so weit von ihrer Wählerschaft entfernte, bis ihr Wählerzuspruch unter die Fünf-Prozent-Marke gesunken war? Es spricht für Wolfgang Kubickis Ehrlichkeit, daß er dieser Frage nicht ausweicht, auch wenn er erst im letzten Viertel des Buches darauf zu sprechen kommt. Kulminationspunkt dieser Entfernung waren für ihn die Vorgänge im Bundestag am 31. Januar 2025, als die FDP-Fraktion bei der Abstimmung zum Zuwanderungsbegrenzungsgesetz praktisch auseinander fiel.
Aber dieses Auseinanderbrechen der FDP Fraktion war nur der Endpunkt eines langen Prozesses der Entfernung der FDP von ihr Wählerschaft. Diese Entfernung begann schon unmittelbar nach dem großen Erfolg bei der Bundestagswahl von 2021, als die FDP mißverstand wofür sie gewählt worden war, nämlich nicht für die Freigabe von Cannabis und der Möglichkeit einmal im Jahr das Geschlecht zu wechseln, sondern für eine Revitalisierung der sozialen Marktwirtschaft nach den bleiernen Merkel-Jahren, für ein leistungsgerechtes Steuersystem und Bewahrung individueller Freiheiten.
Stattdessen, so Kubicki, folgte die Partei dem Mainstream, wollte von der Hauptstadtpresse geliebt werden und lebte in der panischen Angst davor, daß die Vorwürfe der Regierungsunfähigkeit, die seit 2013 gegen die FDP erhoben wurden, wieder hochkochen würden.
Vergleichende Betrachtung der FDP-Wenden fehlt
Ein maßgeblicher Grund für die notorische Fügsamkeit der FDP gegenüber dem rotgrünen Machtapparat wird allerdings am Beispiel von Volker Wissing nur zart angedeutet: der Wunsch der Amtsträger ihre Posten und Pfründe zu behalten und die Furcht davor, bei einer Neuwahl des Bundestages aus dem Parlament zu fliegen. Auch ein kritisches Wort zur verhängnisvollen Rolle des FDP-Justizministers Buschmann hätte der Klarheit dieser Selbstkritk gut angestanden.
Diese im nachherein klar auf der Hand liegende Tiefenstruktur des FDP-Versagens lenkt den Blick darauf, daß es immer wieder Staatskrisen gegeben hat, in denen sich der Liberalismus gegenüber einer Übermacht des Mainstreams hatte behaupten müssen. 1982, als die FDP wegen der sozialdemokratischen Verschuldungspolitik das sozialliberale Bündnis verließ, hatte sie diese existentielle Herausforderung angenommen und bestanden.
2011, als die FDP Minister während der Eurokrise und dem faktischen Bruch der Maastricht-Verträge auf ihren Ministersitzen kleben blieben, als hätten sie Pattex an der Hose, hat die Partei versagt, ebenso wie während der gesamten Zeit der Ampelregierung. Schade, daß der Autor diese drei Krisen des deutschen Liberalismus nicht einer vergleichenden Betrachtung unterzieht.
Auch der Autor trägt Mitschuld am Niedergang seiner Partei
Kubickis Rechtfertigung für das Verhalten der FDP während der Ampelregierung kommt dagegen reichlich larmoyant daher. Sie läuft darauf hinaus, daß ohne die FDP alles noch viel schlimmer gekommen wäre. Erst am Ende, als die FDP schon wegen des so genannten „D-Day Papiers“ bei der Hauptpresse unter Beschuß stand, „platzte“ Kubicki der Kragen, und er postete nicht ohne ein gewisses Pathos auf X: „Ich bekenne mich schuldig. Ich wollte das Ende dieser Koalition, die an Gewürge unserer Wirtschaft und unserem Ansehen massiv geschadet hat. Ich wollte einen Kanzler nicht mehr mittragen, der sich selbst für den größten hält, aber nichts mehr auf die Kette kriegt. (…) Wenn ihr also einen Schuldigen sucht, Rote, Grüne und Teile der Medien, nehmt mich.“
Ist da die Entschuldigung, auf die die FDP-Wähler für das Fehlverhalten ihrer Abgeordneten gewartet haben? Natürlich nicht. Kubicki „entschuldigt“ sich dafür, daß er endlich den Mut gefunden hat, sich dem Irrwitz der Grünen und der Sozialdemokraten entgegenzustemmen, was reichlich kokett rüberkommt.
Stattdessen hätte er sich bei seinen Wählern für sein eigenes Abstimmungsverhalten entschuldigen sollen, für seine Zustimmung zum Heizungsgesetz, zum sogenannten „Selbstbestimmungsgesetz“, das den jährlichen Geschlechterwechsel legalisierte und für seinen mangelnden Widerstand gegen die staatliche Finanzierung linker NGOs und Gesinnungsschnüffler, die in ihrer Gesamtheit die Meinungsfreiheit in Deutschland schwer beschädigt haben.
Am Ende legt der Leser das Buch deswegen ein wenig ratlos aus der Hand. Das Buch ist voll liberaler Programmatik, der man so gern glauben würde. Aber dieses Glaubenwollen kollidiert mit der glasklaren Erinnerung daran, daß der Autor selbst dem meisten von dem, was er nun nach Ende der Ampel-Regierung beklagt, zugestimmt hat. Mit Standfestigkeit und Zuverlässigkeit der Liberalen hat man also schlechte Erfahrungen gemacht. Was spricht dafür, daß es in Zukunft nicht wieder so rein wird?