Nichts ist nach der Wahl so alt wie das Wahlprogramm von vor der Wahl. Das macht Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz so schnell deutlich wie kaum ein Politiker vor ihm. Schon einen Tag danach signalisierte er, offenzu dafür zu sein, gemeinsam mit SPD und Grünen die Schuldenbremse im Grundgesetz zu ändern. In ihrem Programm hatten CDU und CSU dagegen versprochen, „an der grundgesetzlichen Schuldenbremse festzuhalten“.
Es ist nicht die einzige der von ihm ausgesprochenen „Garantien“, die Merz in Rekordgeschwindigkeit kippt. Anders kann es niemand verstehen, wenn er der SPD noch vor Beginn von Sondierungsgesprächen kampflos das Innenministerium überlassen will. In der Migrationspolitik und inneren Sicherheit, die er im Wahlkampf zu zentralen Themen machte, bräuchte es einen grundsätzlichen „Politikwechsel“, tönte der CDU-Chef. Wie soll das mit der alten und mutmaßlich neuen Innenministerin Nancy Faeser gehen?
Am empörendsten ist allerdings, daß Merz nach der Wahl noch die Mehrheiten des alten Bundestages nutzen will, um die Schuldenbremse zu schleifen. Für diesen undemokratischen Vorstoß der Grünen zeigte er Gesprächsbereitschaft. Denn nur in der alten Zusammensetzung verfügen Schwarz-Rot-Grün noch über eine Zweidrittelmehrheit. Im neuen Bundestag bräuchte es dafür die Zustimmung von AfD oder Linken.
Wie groß ist Merz‘ Wählerverachtung?
Wie groß muß die Wählerverachtung sein, tatsächlich ein solches Manöver von einem demokratisch nicht mehr legitimierten Parlament durchsetzen zu wollen? Um die Ungeheuerlichkeit zu verdeutlichen, muß man betonen: Es geht hier um nicht weniger als eine Änderung des Grundgesetzes mit abgewählten Abgeordneten. Das von ihm so oft beschworene Wort von den „demokratischen Parteien der Mitte“, womit er Union, SPD und Grüne meinte, bekommt damit einen wirklich üblen Beigeschmack.
Merz hatte auf deutlich mehr als 30 Prozent gehofft. Erreicht hat er das mit Abstand zweitschlechteste Resultat seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Sein „sehr großes Bedauern“ äußerte er am Montag über das Wahlergebnis, das „der ganz linken und der ganz rechten Seite“ eine Sperrminorität ermöglicht habe. Der designierte neue Kanzler betonte, der alte Bundestag bleibe so lange im Amt, bis sich der neugewählte konstituiere. Der CDU-Chef frohlockte: „Das heißt also, wir haben jetzt noch vier Wochen Zeit, darüber nachzudenken.“
Die Brandmauer fällt dem Umfaller auf die Füße
Daß die moralische Belehrung des Auslands à la Annalena Baerbock unter ihm seine Fortsetzung findet wird, hatte er schon mit seiner maßlosen Kritik an der verkürzt dargestellten, tatsächlich aber sehr differenzierten Rede von US-Vizepräsident J. D. Vance deutlich gemacht. In der „Berliner Runde“ am Wahlabend ignorierte er auch die Glückwünsche von Donald Trump und polterte stattdessen gegen den US-Präsidenten in einer moralisierenden Weise, daß man glaubte, ein Grünen-Politiker hätte das Wort.
Ohne jeden Anlaß feuerte er eine Breitseite nach der anderen in Richtung Washington und erschwerte die transatlantische Diplomatie und die künftige Zusammenarbeit mit Deutschlands wichtigstem Verbündeten, bevor diese überhaupt beginnt. Daß er dabei auch noch die AfD-Nähe der USA auf eine Stufe mit jener angeblichen Moskaus stellte, schaffte gleich zwei Fronten auf einmal. Er demonstrierte damit vor allem, daß Deutschland in grüner Tradition überall dort, wo es keine Brandmauern gibt, weiterhin verbrannte Erde hinterläßt.
Ähnlich unklug verhielt sich Merz mit seiner Festlegung, als Kanzler jede Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen. Zwar kam er wegen des Scheiterns des BSW an der Fünfprozenthürde gerade noch so mit einem blauen Auge davon, nicht mit SPD und Grünen koalieren zu müssen. Aber für seine Brandmauer muß er nun den hohen Preis bezahlen, daß ihm die Sozialdemokraten jede Bedingung für eine Koalition diktieren zu können.
Auf Merz können sich die Wähler nicht verlassen
Wie wenig sich seine Wähler auf ihn verlassen können, machte er ohne Not schon vor dem Beginn jeglicher Gespräche mit dem neuen Koalitionspartner bei seinem Entgegenkommen in Sachen Schuldenbremse und Innenministerium deutlich. Daß er der SPD und damit Karl Lauterbach auch das Gesundheitsministerium überlassen will, ist ein weiteres Zeichen für ein „Weiter so“.
Wahlprogramm, Politikwechsel, Garantien waren gestern. Heute inszeniert sich Merz als die wieder auferstandene Angela Merkel. Was für ein jämmerlicher Umfaller.
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