Dieses Buch handelt von der Macht als einer der Grundbedingungen menschlicher Existenz, von ihrer unauflöslich auf Gewalt beruhenden Entstehung, ihrer Verfestigung, ihrer Verwandlung in Herrschaft als institutionelle Macht, von ihrer Akzeptanz durch die Beherrschten, die sich von ihr auch Schutz erhoffen, aber auch von den ihr stets drohenden Gefahren, von dem Kampf mit diesen Gefahren und mit den Zwängen, den dieser Kampf den Inhabern der Macht auferlegt. „Wer verstehen will, was Herrschaft ist und wie sie empfunden wird, muß sich an den historischen Ort begeben, an dem sie spürbar wird.“
Der historische Ort, an den sich der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski – dem wir bereits unter anderem eine akribische, „gnadenlose“ Beschreibung und analytische Durchdringung des Stalinismus verdanken – begibt, ist in seinem über tausend Textseiten umfangreichen Hauptteil das rußländische Imperium unter den letzten drei Zaren zwischen 1855, dem Regierungsantritt Alexanders II., bis unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dessen Verlauf es untergehen sollte.
Das Wort des Herrschers war Gesetz und Vermächtnis
Diesem Reich und den in ihm lebenden Menschen widmet der Autor eine wahrhaft enzyklopädische Darstellung, die alle Schichten der Gesellschaft, alle Völkerschaften erfaßt. Dabei beschränkt er sich keineswegs auf eine bloße Beschreibung von „Tatsachen“ und Ereignissen, sondern durchdringt diese mit einer analytischen Sonde, indem er sich unbeirrt von der Machtfrage leiten läßt: Wie wurde es unternommen, den autokratischen Machtanspruch durchzusetzen, wie wurde er im Laufe der Zeit modifiziert und – ganz besonders – wie wurde er in Frage gestellt, bekämpft, immer wieder mit Gewalt durchgesetzt, bis dieses Mittel schließlich im Februar 1917 versagte und die Autokratie zusammenbrach.
Bevor das Zarenreich in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz detailliert beschrieben und analysiert wird, geht der Autor zu dessen Ursprung zurück und durchmißt dann den Zeitraum bis zum Beginn der Herrschaft Alexanders II. Das „Grundgesetz“ des Imperiums war die Selbstherrschaft des Zaren, so wie sie von Peter I. mit eiserner Faust durchgesetzt und praktiziert worden war. Hier war „das Wort des Herrschers Gesetz und Vermächtnis“, eines Herrschers, der Rußlands Rückständigkeit durch die Übernahme westeuropäischer Wissenschaft und Technik zu überwinden unternahm und jeglichen Widerstand erbarmungslos niederschlug. „Peter schlug eine blutende Wunde in das russische Leben, die bis zum Ende der Autokratie im Februar 1917 nicht verheilen sollte.“
Die Selbstherrschaft blieb bis 1905 unangetastet
Um seinen Herrschaftsanspruch durchsetzen zu können, bedurfte der Zar der Mitwirkung des Adels, der gleichzeitig von ihm entmachtet, ja versklavt und gezwungen wurde, sich dem Staatsdienst zu widmen, weil es keine andere Möglichkeit gab, Privilegien und hohen gesellschaftlichen Status zu erlangen und zu bewahren. Als Belohnung erhielten die Dienstadligen Land, das von rechtlosen leibeigenen Bauern bearbeitet wurde. Für die bäuerlichen Massen gab es keinen Staat, von dem sie sich irgendeinen Nutzen oder Vorteil versprechen konnten. Sie standen dem Staat und der Schicht der Grundherren feindlich gegenüber, die sie das Fürchten lehrten und nur durch permanente Gewaltausübung niedergehalten werden konnten. So sollte es bis zum Schluß bleiben.
Ungeachtet aller nachpetrinischen Veränderungen wie etwa der Einteilung des Reiches in Provinzen, der Gewährung erblichen Landbesitzes, der Einrichtung von Schulen, der Emanzipierung des Adels vom Dienstzwang blieb die „Apartheid“, die die dünne europäisierte Oberschicht von der Schicht der Bauern trennte unüberwunden und eine immerwährende Bedrohung der Herrschenden.
Auch wenn sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Bürokratie herausbildete und sich zwischen den Herrscher und die Beherrschten schob, blieb die Selbstherrschaft bis zur ersten Revolution 1905 im Grundsatz unangetastet bestehen. Tatsächlich trafen auch die letzten Zaren immer wieder Entscheidungen von großer Tragweite. Beispielsweise teilte Zar Nikolaus II. im Jahr 1906 dem Premierminister Sergej Witte buchstäblich en passant, beim Verlassen eines Zimmers, dessen Ablösung mit. Der Zar ernannte die Minister, die ihm persönlich und jeweils einzeln Bericht erstatten mußten. Es gab kein koordiniertes Regierungshandeln. Aber die Herrscher waren weit davon entfernt, ihren Willen, sämtliche Entscheidungen vollständig und ihren Absichten gemäß durchzusetzen.
Gewaltausbrüche in der Provinz prägten die Zarenzeit nach 1861
Zar Alexander II. konnte 1861 zwar die „Bauernbefreiung“ verkünden, aber er vermochte es nicht zu verhindern, von den Bauern „mißverstanden“ zu werden. Diese konnten nicht begreifen, daß sie das von ihnen bearbeitete Land den Gutsbesitzern abkaufen sollten; denn nach bäuerlicher Rechtsvorstellung konnte Herr des Bodens nur sein, wer diesen bearbeitete. Und so kam das Gerücht auf, die Gutsbesitzer sabotierten das, was der Zar wirklich bezwecke. Folge waren nicht enden wollende Gewaltausbrüche, bei denen unzählige Gutshäuser „abgefackelt“ und zahllose Gutsbesitzer ermordet wurden. Immer wieder mußten Kosakeneinheiten mit Gewalt „für Ruhe sorgen“. Überhaupt spielten Gerüchte auf dem Lande oftmals eine verhängnisvolle Rolle, so etwa bei der Auslösung von antijüdischen Pogromen.
Schon unter dem „Zaren-Befreier“ kam der Terrorismus der „narodniki“ auf, dem Alexander II. 1881 selbst zum Opfer fiel, der niemals vollständig besiegt werden konnte und bis zum Ende der Zarenherrschaft Tausende von Staatsbeamten, darunter Minister und Gouverneure, das Leben kostete. 1911 wurde der Premierminister Pjotr Stolypin im Beisein des Zaren ermordet. „Allein zwischen Oktober 1905 und September 1906 wurden 3.611 Staatsbeamte von Terroristen getötet.“ Immer wieder kam es auch zu Anschlägen auf das Leben der Zaren, die sich in ihren Palästen geradezu einigeln mußten.
Die Zaren waren tragische, an das Schicksal gebundene Gestalten
Besondere Aufmerksamkeit, man darf wohl gar von Sympathie sprechen, widmet der Autor denjenigen an führender Stelle politisch Handelnden, die sich, mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Mitteln im einzelnen, darum bemühten, das Zarenreich, die Zarenherrschaft in die vom Aufkommen der Industrialisierung und des Kapitalismus geprägte Moderne zu führen und dadurch überlebensfähig zu machen, angefangen unter Zar Alexander II. mit Michail Loris-Melikow bis hin – unter Zar Nikolaus II. – zu Sergej Witte und Pjotr Stolypin.
Alle diese Politiker waren im Wortsinn tragische Gestalten: Einerseits blieben sie unauflöslich an den jeweiligen Zaren, dessen Willen, oftmals – vor allem bei Nikolaus II. – Launen und Schicksal gebunden, andererseits sahen sie sich einer unversöhnlichen, zu Kompromissen nicht bereiten Öffentlichkeit, gerade auch der Oberschicht, gegenüber, wurden in dieser ausweglosen Situation aufgerieben. Immerhin gelang es Witte, dem bedeutendsten Reformer, dem letzten Zaren 1906 das Oktoberdiplom abzutrotzen, mit dem dessen Selbstherrschaft gewisse konstitutionelle Beschränkungen auferlegt wurden.
Es konnte in dieser Besprechung nur darum gehen, dem Leser einen ungefähren Eindruck von einer beeindruckenden, ja großartigen historiographischen Leistung zu vermitteln. Wer sich mit der Geschichte Rußlands in der Neuzeit gründlich beschäftigen, wer die Grundlagen verstehen will, auf denen sich nach dem Sturz der Autokratie ein Terrorregime etablieren konnte, mit dem die Zarenherrschaft im Vergleich als liberal bezeichnet werden kann, sollte unbedingt Jörg Baberowskis Opus magnum studieren.
_____________
Prof. Dr. Werner Lehfeldt lehrte von 1975 bis 2011 Slavistische Sprachwissenschaft an den Universitäten Konstanz, Basel und Göttingen.