Anzeige
Anzeige

Buchrezension: Die „Hillbilly-Elegie“, abgehängt mit Stars and Stripes

Buchrezension: Die „Hillbilly-Elegie“, abgehängt mit Stars and Stripes

Buchrezension: Die „Hillbilly-Elegie“, abgehängt mit Stars and Stripes

Eine Mischung aus Südstaaten- und Stars-and-Stripes-Flagge flattert an der Veranda eines typisch amerikanischen Holzhauses in Shawnee Ohio. Ein typischer Anblick einer Hillbilly-Gegend
Eine Mischung aus Südstaaten- und Stars-and-Stripes-Flagge flattert an der Veranda eines typisch amerikanischen Holzhauses in Shawnee Ohio. Ein typischer Anblick einer Hillbilly-Gegend
Eine Mischung aus Südstaaten- und Stars Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Wong Maye-E
Buchrezension
 

Die „Hillbilly-Elegie“, abgehängt mit Stars and Stripes

Trumps US-Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance erzählt in seinem Buch, wie er aus der weißen Unterschichtstristesse ausbrach. Irgendwo zwischen Milieustudie und Autobiographie ermöglicht er einen schonungslosen Einblick in das Leben der amerikanischen Arbeiterklasse.
Anzeige

Als im Jahre 2016 zum Staunen der Welt Donald Trump über Hillary Clinton bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen triumphierte, fokussierte sich der Blick der Öffentlichkeit erstmals auf die großen deindustrialisierten, ökonomisch zurückgebliebenen Regionen des amerikanischen Ostens, in denen jene sogenannten „Deplorables“ (Bedauernswerte oder Abgehängte) leben, die Hillary Clinton herabsetzend als den Kern der Anhängerschaft von Donald Trump bezeichnet hatte. J. D. Vance, ursprünglich einer dieser „Abgehängten“, veröffentlichte nur ein Jahr später seine „Hillbilly-Elegie“ mit der er der Region zum ersten Mal eine eigene Stimme gab.

In diesem Buch beschrieb er seine eigene Familiengeschichte als den Versuch eines Hillbillys (Hinterwäldlers), der Hoffnungslosigkeit seines Milieus zu entkommen. Trotz seines Happy-Ends lenkte das Buch die Aufmerksamkeit auf die Misere der amerikanischen Arbeiterklasse, in deren ungeschminkter Darstellung sich Millionen Menschen wiedererkannten.

Es gehört zu den Vorzügen des Buches, daß diese Familiengeschichte bereits lange vor der Geburt des Autors einsetzt, als Jamie Lee Vance und Bonnie Blanton, die Großeltern des Autors (im Buch etwas mißverständlich als „Mamaw und „Papaw“ bezeichnet), die Kleinstadt Jackson in Kentucky verließen, um im Industriegürtel von Ohio ein besseres Leben zu suchen. Ganz freiwillig war dieser Umzug allerdings nicht gewesen, denn Papaw (16) hatte Mamaw (13) geschwängert, und es drohte die Rache der Brüder.

Mit der Krise der US-Stahlindustrie ging es bergab

Diese Flucht fügte sich ein in eine große, generationenübergreifende Wanderungsbewegung, die die Bewohner der Appalachen in die Industriezentren des Mittleren Westens führte. In zwei größeren Einwanderungswellen (einmal nach dem Ersten Weltkrieg, die zweite in den 1940er und 1950er Jahren) verließen Millionen Menschen auf dem sogenannten „Hillbilly-Highway“ die Appalachen in Richtung auf die nördlich gelegenen Industriezentren des „Rust Belts“, entlang der Großen Seen von Chicago über Detroit, Cleveland, Cincinnati und Pittsburgh.

Mamaw und Papaw ließen sich in Middletown/Ohio nieder, bekamen drei Kinder und erarbeiten sich ein bescheidenes Auskommen als Angestellte des örtlichen Stahlkonzerns. Mit der Krise der amerikanischen Stahlindustrie aber ging es auch mit Middletown begab. Die Steuereinnahmen brachen ein, die Infrastruktur verfiel, und die Diebstähle nahmen überhand. Wegziehen war keine Option, da der gleichzeitig einsetzende Verfall der Häuserpreise es den überschuldeten Eigentümern unmöglich machte, ihre Häuser zu verkaufen. Die Menschen saßen in der Falle.

In diese Phase des Niedergangs wurde im Jahre 1984 der kleine James Donald (J. D.) Bowman als Enkel von Mamaw und Papaw und als Sohn von Bev und Donald Bowman geboren. Den Namen Vance nahm der Autor erst später zu Ehren seiner Großeltern an. Kaum ein Jahr nach seiner Geburt ließen sich die Eltern scheiden.

„Bring gute Noten nach Hause“

Vater Donald Bowman trennte sich von seinem Sohn, und die Mutter Bev begann eine lebenslange Drogenkarriere an der Seite von einem halben Dutzend Männern, die sich als Stiefväter des kleinen James Donald die Türklinke in die Hand gaben. Ein verhängnisvoller Kreislauf innerhalb des „White Trash“ drohte, wie diese weiße Unterschicht in den USA despektierlich bezeichnet wird. In diesem duplizieren die Kinder die lebensgeschichtliche Misere ihrer Eltern: aufgewachsen in gewalttätigen innerfamiliären Verhältnissen, verlassen sie als Scheidungskinder früh ihr zu Hause, zeugen bereits als Teenager ihrerseits Kinder, brechen die Schule ab und schlagen sich mit unqualifizierten Beschäftigungen durchs Leben, ohne sich um ihren Nachwuchs zu kümmern.

Auch der kleine J. D. wäre in diesem Strudel versunken, wären da nicht die Großeltern gewesen, die in der Nähe wohnten und ein wachsames Auge auf den Jungen hatten. In einem entscheidenden Augenblick seines Lebens, als der kleine J. D. bereits in den Dunstkreis halbkrimineller Freunde geraten war und die ersten Straftaten bevorstanden, nahm die Großmutter den Enkel zu sich, um ihn auf den richtigen Weg zu führen.

Die durchaus brachial durchgesetzten Regeln dieses neuen Weges lauteten „Bring gute Noten nach Hause, such dir einen Job und beweg deinen Arsch, wenn ich Hilfe brauche.“ Von ihrer schmalen Rente (Papaw war inzwischen gestorben) kaufte sie ihm einen teuren Taschenrechner, damit J. D. in der Schule mithalten konnte und sorgte dafür, daß er sich mit Nebenjobs ans Arbeiten gewöhnte. J. D. gewann neue Freunde und wurde in der Schule so gut, daß er die Aufnahmeprüfung für die Universität bestand.

Auf dem Buchcover von J.D. Vance: Hillbilly Elegie ist ein tristes, zerfallenes Haus in einer ländlichen Gegend zu sehen, eine amerikanische Flagge hängt vom Dach
J.D. Vance: Hillbilly Elegie. 304 Seiten. YES Publishing, Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Als „Marine mit dem Südstaatenakzent“ meisterte er das Studium

Weil er sich selbst mißtraute, beschloß er jedoch, sich vorher für vier Jahre als Marineinfanterist zu verpflichten. Während der Grundausbildung nahm er zwanzig Kilo ab und erlernte eine ganze Reihe von elementaren Zivilisationstechniken über Haushaltsführung, Hygiene und Ernährung.  Zugleich finanzierte er von seinem mageren Salär die Krankenversicherung der Großmutter, die allerdings schon im Alter von 72 Jahren verstarb.

Nach vier Dienstjahren begann er im Alter von 23 Jahren ein Studium an der Universität von Ohio, das er durch drei Nebenjobs gleichzeitig finanzierte und erfolgreich abschloß. Vom Optimismus beflügelt, bewarb er sich anschließend für das Jurastudium in Yale und wurde zu seinem Erstaunen angenommen.

Weil er zu den ärmsten Bewerbern zählte, erhielt er Studiendarlehen, mit dem er einen Teil der Ausbildung finanzieren konnte. Als „Marine mit dem Südstaatenakzent“ meisterte er das Studium, lernte Usha, seine spätere Frau, kennen und erhielt nach dem Examen eine der begehrten Anstellungen in einer juristischen Spitzenkanzlei.

Etwas Entscheidendes unterschied ihn vom typischen Hillbilly

Wie war mein erstaunlicher Karriereweg möglich? fragt sich der Autor am Ende seines Buches. Welche Rolle spielten Zufall, Glück, Begabung und Willen? Die Antwort führt ihn zum Phänomen der „resilienten Kinder“, das heißt jener Kinder, „die trotz eines instabilen Milieus gedeihen, weil sie die Unterstützung eines einzigen, liebevollen Erwachsenen haben“. Dieser lebensentscheidende, liebevolle Erwachsene war in seinem eigenen Leben seine Großmutter gewesen. Sie hatte ihm die Liebe und Zuversicht gegeben, mit denen der Autor in die Lage versetzt wurde, seine Kräfte zu entfalten.

Darüber hinaus lehrte sie den Autor etwas ganz Entscheidendes, was ihn von der Mentalität des typischen Hillbillys unterscheiden sollte: die Eigenverantwortung und die Überzeugung, nicht nur ein Opfer der Umstände zu sein, sondern auf sein eigenes Schicksal maßgeblichen Einfluß auszuüben. Insofern der Autor diese Maxime mit Erfolg verwirklichte, repräsentiert J. D. Vance die personifizierte Widerlegung des weitverbreiteten Narrativs, nach dem sich die Menschen aus problematischen sozialen Konstellationen nicht eigenständig befreien können.

Dieses populäre Ineinander von Selbstentmündigung und Anspruchshaltung erscheint im Licht der vorliegenden Autobiographie als einer der verhängnisvollsten Strukturdefekte des modernen Wohlfahrtsstaates. Ein Großteil der aufklärerischen Potenz des vorliegenden Buches besteht in der Erhellung dieses Sachverhaltes.

„Von vielen dieser Schubser habe ich profitiert“

Allerdings ist der Autor weit davon entfernt, sich selbst einen Heiligenschein umzuhängen. Ohne den resilienten Raum, den ihm seine Großmutter und Teile seiner Familie boten, hätte er sich noch so sehr anstrengen können und wäre doch gescheitert. Jenseits der Bedeutung liebevoller Bezugspersonen und dem Bewußtsein der Eigenverantwortung spielen auch Schicksal und Zufall eine Rolle.

Es gibt keine Formel, kein staatliches Programm, sondern nur unendlich viele kritische Einzelfälle, bei denen man im besten Fall Leuten, die auf der Kippe stehen, einen „Schubs“ geben kann. „Von vielen dieser Schubser habe ich profitiert“, meint der Autor am Ende, nicht ohne seinen Lesern dringend ans Herz zu legen, in der eigenen Umgebung, wo immer es möglich ist, Menschen in Not solche positiven „Schubser“ mitzugeben.

Die Linke würdigte die Kritik an der obamafeindlichen Hillbilly-Mentalität

Kein Wunder, daß das vorliegende Buch sofort nach seiner Veröffentlichung im Jahre 2017 auf einhellige Zustimmung aus allen politischen Lagern stieß. Den Konservativen gefiel die Betonung der Eigenverantwortung, die Linke würdigte die Kritik an der obamafeindlichen Hillbilly-Mentalität, von der im Buch die Rede ist.

Das hat sich allerdings in dem Augenblick geändert, als der Autor 2024 von Donald Trump zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft ernannt wurde. Der deutsche Ullstein Verlag verweigerte die Neuauflage des vergriffenen Buches, und ein taz-Redakteur brachte es fertig, seine eigene positive Besprechung zu widerrufen, um plötzlich das Gegenteil von dem zu behaupten, was er 2017 geschrieben hatte. Dem Erfolg des Buches tut das aber keinen Abbruch. Wie man hört, geht die Neuauflage der deutschen Übersetzung, die im Yes Publishing Verlag erschienen ist, weg wie warme Semmeln.

JF 42/24 

Eine Mischung aus Südstaaten- und Stars Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Wong Maye-E
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag