Anzeige
Anzeige

Ein Jahr Krieg gegen Hamas: Israel, ein Jahr nach dem 7. Oktober: Hinter der Armee

Ein Jahr Krieg gegen Hamas: Israel, ein Jahr nach dem 7. Oktober: Hinter der Armee

Ein Jahr Krieg gegen Hamas: Israel, ein Jahr nach dem 7. Oktober: Hinter der Armee

Israel steht fest geschloßen angesichts der Gewalt
Israel steht fest geschloßen angesichts der Gewalt
Trauernde nehmen an der Beerdigung eines israelischen Soldaten teil. Foto: picture alliance, Reuters, Ronen Zvulun
Ein Jahr Krieg gegen Hamas
 

Israel, ein Jahr nach dem 7. Oktober: Hinter der Armee

Der Angriff vom 7. Oktober hat Israel geeint. Viele wünschen sich ein Ende des Krieges, aber sie wissen auch, daß der Feind erst noch seine Lektion erhalten muß. Abgerechnet mit dem Versagen der Sicherheitskräfte wird erst nach dem Krieg. Ein Gastbeitrag von Chaim Noll.
Anzeige

Es gibt glückliche Jahrestage und traurige. Dieser ist zunächst tieftraurig: Israel führt seit einem Jahr, seit der grausamen Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023, einen Krieg an mehreren Fronten. Der Krieg hat die egozentrischen, freiheitsliebenden, viel reisenden Israelis auf ungeahnte Weise vereint. Aus allen Himmelsrichtungen flogen sie herbei, um zu kämpfen, in wenigen Stunden waren 300.000 Reservisten unter Waffen, dazu 60.000 Freiwillige und ungezählte Helfer im Hinterland, insgesamt, neben den 170.000 Wehrpflichtigen, gut eine halbe Million junge Frauen und Männer.

So begann der Krieg mit einem spontanen Bekenntnis der Jugend zur Heimatliebe, zum Patriotismus. Die Stimmung der Jugend ist die entscheidende Größe angesichts der Demographie des Landes: 38 Prozent aller Israelis sind unter 18 Jahre alt. Und mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter dreißig; diese Altersgruppe kämpft im Krieg und erlebt die von der Hamas fanatisierte Bevölkerung in Gaza und der Westbank – ein Erlebnis, das ihr Wahlverhalten beeinflussen wird. Man kann davon ausgehen, daß die von der EU unterstützten Konzepte der israelischen Linken – „Zweistaatenlösung“, „Truppenabzug aus den besetzten Gebieten“ – weiter an Popularität verlieren werden.

Die Linke hat es schwer im Frontstaat Israel

Daher hat sich die Linke neu formiert, um es wenigstens zusammen ins nächste Parlament zu schaffen. Ihr neuer Vorsitzender ist – wenig überraschend – ein pensionierter General. Militärs genießen dieser Tage in Israel weitaus größeres Vertrauen als Berufspolitiker, die kürzlich ein anderer General, Dan Goldfus, öffentlich aufforderte, sich an den jungen Soldaten ein Beispiel zu nehmen und Anstand, Einigkeit und Verantwortungsgefühl zu zeigen. Er wurde von der Armeeführung getadelt, weil er sich als aktiver Offizier nicht in die Politik des Landes einmischen dürfe, doch wenige Wochen später befördert. Die Regierung Netanjahu vermeidet wohlweislich offene Spannungen mit der Armee.

Fast niemand in Israel zweifelt an der Notwendigkeit dieses Krieges. Fürs erste wurde die Aufarbeitung der gravierenden Fehler von Politikern, Geheimdienstleuten und hohen Offizieren, die zum Debakel des 7. Oktober beitrugen, bis Kriegsende vertagt, was nicht heißt, daß sie vergessen wäre. Benjamin Netanjahus Regierung ist weitgehend unbeliebt, doch ihr Sturz scheint vorerst nicht der Mühe wert.

Auch weil Minister, Generäle und andere Verantwortliche – so das verbreitete Kalkül – gerade durch ihr Schuldgefühl am Einknicken unter dem internationalen Druck gehindert werden und diesen Krieg, anders als die abgebrochenen Militäraktionen 2009, 2012 und 2014, zu einem von der Mehrheit erhofften Ende führen müssen: Zerschlagung der Hamas, möglichst auch der Hisbollah als kampffähige militärische Formationen. Mit der Tötung Hassan Nasrallahs, der 32 Jahre lang die Terrororganisation angeführt hatte, ist der Armee damit ein wichtiger aber kaum endgültiger Schlag gelungen.

Westliche Medien verwechseln Diskurse mit Spaltung

Eine in westlichen Medien überbewertete Bewegung, angeführt von einigen Familien in Hamas-Gefangenschaft befindlicher Geiseln, fordert sofortige Waffenruhe und bringt Zehntausende zu Demos auf die Straße. Andererseits fordern Eltern gefallener Soldaten eine Fortsetzung des Krieges bis zur Zerschlagung der Hamas, damit der Tod ihrer Kinder in Gaza „eine Bedeutung“ hätte.

Und die Bürgermeister evakuierter Städte und Dörfer im Norden Israels „erklären, daß sie keine voreiligen Vereinbarungen mit der Hisbollah akzeptieren werden“, wie Jediot Acharonot meldete. „Stattdessen fordern sie entschlossenes Handeln von Netanjahus Regierung und danken der Armee für ihre jüngsten Erfolge. Sie halten einen Waffenstillstand für ein Geschenk an die Hisbollah.“

Aus solchen Meinungsverschiedenheiten nehmen ausländische Medien das Stereotyp einer „Spaltung“. Die israelische Gesellschaft ist von jeher heterogen, schon wegen ihrer verschiedenen kulturellen Hintergründe. Heftige Kontroversen, extreme, oft unvereinbare Meinungen gehören zum Demokratieverständnis der Israelis. Die meisten von ihnen verfügen über ein flexibles Ego, das sie über Nacht aus lautstarken Opponenten der Regierung in disziplinierte Soldaten verwandelt – und umgekehrt. Gerade junge Israels motiviert das sehr weitgehende Recht auf freie Meinungsäußerung zum Kampf für ihr bedrohtes Land. Manche fahren von der Demo zu ihrer Kampfeinheit.

Und glauben wir an den Sieg?

Der Krieg bringt spürbare Veränderungen mit sich. Einige Dienstleistungen sind stark beschränkt. Das Gesundheitssystem wirkt teils überlastet. Die Inflation bei Lebensmitteln beunruhigt. Personalmangel und Handelsboykotte führen zu Einbußen. Dafür kommt es zu ungeheuren Gewinnen in der Militärindustrie, vor allem für Hersteller von Raketen- und anderen Abwehrsystemen, die mit Aufträgen überhäuft sind.

Ob uns diese Akzentverschiebung in Richtung Rüstungsindustrie behagt oder nicht – sie scheint unvermeidlich. Ungebrochen ist der Bevölkerungszuwachs, vor allem durch im Land geborene Kinder, auch durch weiterhin starke Einwanderung, etwa aus der Ukraine oder aus Ländern wie Frankreich, Belgien, zunehmend auch Deutschland, deren Juden sich von den islamischen Einwanderern bedroht fühlen.

Glauben wir an einen Sieg? Es wäre großartig, wenn wenigstens die Entwaffnung der Hisbollah gelänge (UN-Resolution 1701). Wir sind hinaus über die naive Hoffnung auf einen „dauerhaften Frieden im Nahen Osten“: Derzeit kann es nur zeitweise Frieden geben, nachdem Israel schwere Schläge ausgeteilt hat. Denn dieser Krieg ist kein neuer Krieg und alles andere als überraschend.

Er wurde uns allen zu Beginn des Jahrtausends erklärt, von einem entschlossenen, kampfbereiten Gegner. Wir haben uns lange geweigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Sein Schauplatz liegt nicht nur an Israels Grenzen, sondern an vielen Orten der Welt, auf den Schulhöfen und Straßen europäischer Großstädte, auf dem Campus amerikanischer Universitäten. Die meisten Israelis wissen, daß wir für mehr kämpfen als für unser Land.

_____________
Chaim Noll wanderte 1995 als Schriftsteller und Journalist nach Israel aus. Zuletzt erschien „Scharia und Smartphone: Texte zum zeitgenössischen Islam“ (2023).

JF 41/24

Trauernde nehmen an der Beerdigung eines israelischen Soldaten teil. Foto: picture alliance, Reuters, Ronen Zvulun
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag