BUDAPEST. Boris Palmer hat in Budapest für eine stärkere Dialogbereitschaft zwischen Deutschland und Ungarn sowie innerhalb der Gesellschaft plädiert. Der Oberbürgermeister Tübingens hielt am Dienstag am Mathias Corvinus Collegium in der ungarischen Hauptstadt einen Vortrag mit dem Titel „Über die grüne Grenze“.
Dabei unterstellte Palmer der Bundesregierung Doppelmoral im Umgang mit Budapest: „Was unterscheidet die Pushbacks der griechischen Marine von denen der ungarischen Grenzschützer? Sind die spanischen Zäune von Ceuta und Melilla ethisch aus anderen Metallen als die ungarischen?“ Palmer sagte, die zunehmenden Gegensätze zwischen Deutschland und Ungarn seien eine Chance, sich mit anderen Sichtweisen zu befassen. Europa könne es sich gar nicht leisten, ein Land wie Ungarn auszugrenzen: „Geopolitisch ist Europa überall in der Defensive.“
Werbung für eine liberalere Migrationspolitik
Zugleich kritisierte der Ex-Grüne auch die ungarische Politik. Er verwies dabei auf das Beispiel des Bürgermeisters von Ostelsheim, Ryyan Alshebl, der 2015 als Asylbewerber nach Deutschland gekommen war: „Wenn es nach der ungarischen Politik ginge, hätte ihm ein Zaun den Weg nach Europa versperrt (…) und Ostelsheim hätte vielleicht einen weniger kompetenten Bürgermeister.“ Es fehle in Deutschland an geeigneten Fachkräften, mahnte Palmer und merkte an, daß kleine Gemeinden in Baden-Württemberg inzwischen Probleme damit hätten, willige Bürgermeisterkandidaten zu finden.
Der 51jährige warf Ungarns Premierminister Viktor Orbán mangelnde Kompromißbereitschaft vor: „Wenn doch die EU sich nach so langem Ringen der ungarischen Auffassung anschließt, daß effektive Grenzkontrollen und Grenzverfahren notwendig sind, warum reicht der ungarischen Regierung dann schon ein solidarischer Verteilungsmechanismus, der die Aufnahme weniger tausend anerkannter Flüchtlinge im eigenen Land erforderte, um die gesamte Einigung abzulehnen?“ Er fragte, ob Ungarn ein Staat sein wolle, der den Menschen überhaupt nicht mehr helfen wolle.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Rechts und woke gleichgesetzt
Als Gefahr für die Demokratie bezeichnete Palmer den Rechtspopulismus „im eigentlichen Sinne“, der die Meinung des Volkes für sich allein in Anspruch nehme und für abweichende Meinungen sowie Oppositionelle massive Repressionen „bis hin zur Entfernung aus beruflichen und gesellschaftlichen Stellungen bedeute“. Zeitgleich bemängelte er den Vormarsch der sogenannten Wokeness: „Es ist verstörend, daß es für diese im Kern demokratiefeindliche Haltung eine zunehmend stärker werdende Entsprechung auf der linken Seite des demokratischen Spektrums gibt und die dem Rechtspopulismus auch noch in die Hände spielt.“
Palmer betonte, daß es einen „echten und vorurteilsfreien“ Austausch brauche. „So, wie ich der Meinung bin, daß man repressionsfrei seine sexuelle Identität ausleben darf, halte ich es auch für legitim, daß eine Gesellschaft sich auf den Standpunkt stellt, daß sie Vielfalt als Leitbild nicht verfolgen, sondern so lange an einer historisch bedingten Gemeinschaft festhalten will, wie die es für möglich scheint“, äußerte der Ex-Grüne gegenüber dem Publikum. (kuk)