Daß unsere Erde keine Scheibe ist, weiß jeder. Aber wie ist es mit der Theorie, wir lebten nicht auf, sondern in der Erde? Diese sogenannte „Hohlwelt-Theorie“ ist der Gegenstand des neuen Romans von Büchner-Preisträger Clemens J. Setz. Sein Held ist Peter Bender, eine historische Figur, für die der Autor in Archiven wühlte und Briefe, Flugschriften, psychiatrische Gutachten sowie Benders Roman „Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit“ von 1927 auswertete.
Already a bestseller in #Germany, Monde vor der Landung is Clemens J. Setz’s much-anticipated first #book since winning one of Germany’s highest literary honours, the Georg Büchner Prize, in 2021. https://t.co/4s6TQDnk3w pic.twitter.com/ID3fHgqi3u
— New Books in German (@newgermanbooks) July 18, 2023
Wer war dieser Peter Bender? Auf jeden Fall eine schillernde Persönlichkeit. Der ehemalige Weltkriegspilot gelangte in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik aufgrund physikalischer Beobachtungen und mathematischer Berechnungen zu der Überzeugung, daß „die Erde eine Hohlkugel sei, in deren Mitte Sonne, Mond“ sowie alle anderen Planeten des Sonnensystems kreisen und auf deren konkaver Innenseite wir Menschen leben.
Sterne hielt er für Lichtkügelchen von der Größe eines Apfels, den Himmel für „bläuliches Füllgas“. Er nennt das „Innenweltkosmos“. Und nicht durch Evolution sei Leben auf der Erde entstanden, sondern durch an der Außenseite der Erdkugel andockende Monde, die sich dann wie Eierschalen geöffnet hätten.
Das Horizontale gewinnt immer die Übermacht über das Vertikale
Benders Lebenslauf ist abenteuerlich: Der Leutnant der Luftwaffe, aus seinem Philosophiestudium in Heidelberg gerissen, um ins galizische Kriegsgebiet in der Nähe von Kielce im heutigen Polen geschickt zu werden, war Träger des Eisernen Kreuzes, Arbeiter- und Soldatenratsvorsitzender, Schriftsteller im Bund rheinischer Dichter, Stifter der Wormser Menschheitsreligion und deren Priester.
Mit seiner Theorie von der „Quadratgestalt der Geschlechter“ sah er sich als Triebkraft der Gleichberechtigung. Oder war das nur ein verschrobener Versuch, seinen Ehebruch mit der attraktiven Else zu rechtfertigen, die er sich, so schildert es der Roman, in den zwanziger Jahren als Konkubine hält, obwohl seine Frau ihm mit mustergültiger Loyalität immer den Rücken freihält?
Das Horizontale gewinne immer Übermacht über das Vertikale, erklärt Bender seine Doppelpaartheorie hochakademisch. Und noch eine fixe Idee: Im Inflationsjahr 1923 ersinnt das Unikum eine innovative Währungstheorie, der zufolge Papiergeld durch organisch verwesendes Geld, zum Beispiel aus Apfelschale, ersetzt werden müsse.
Der tiefe Fall in die Hohlwelt
„Der Himmel“ ist der Titel des ersten von drei Hauptabschnitten und von allen der gelungenste. Geschickt verschränkt der gebürtige Grazer darin die Erlebnisse seines tragikomischen Helden als Aufklärungsflieger im Ersten Weltkrieg (einschließlich eines Absturzes, den er 1917 schwer lädiert mit gebrochenem Kiefer überlebt) mit seinen Anfängen als Sektenguru in den zwanziger Jahren.
Im Lazarett auf einem Posener Schulgelände lernt er die Rotkreuz-Freiwillige Charlotte kennen. Die überdurchschnittlich gebildete Krankenschwester erobert sein Herz im Sturm. Bereits nach zwei Wochen hält er um ihre Hand an. Nachdem der Aufklärer seine Kameraden mit abstrusen Theorien verwirrt hat, wird er im Anschluß an eine nervenärztliche Untersuchung und sein eigenes Freistellungsgesuch unehrenhaft entlassen.
Es wird nicht das letzte psychiatrische Gutachten in seinem Leben bleiben. In „stark expansiven Gedankengängen“ weite er „seine Entdeckungen durch immer wieder vorgebrachte mathematische Daten zu einem umfassenden philosophischen System aus“, wird ihm knapp zwanzig Jahre später attestiert.
Der Protagonist – ein literarisches Abbild Hitlers?
In Posen wird das junge Paar Zeuge antideutscher Übergriffe. „Bist du jüdisch, bist du deutsch“, erklärt Charlotte die Attacke polnischer Nationalisten auf eine jüdische Frau. Nach dem Krieg lebt das Paar in Worms. Dort steigert sich Bender weiter in seine Theorien hinein. Parallelen zum jungen Adolf Hitler werden erkennbar: Der Weltkriegsveteran hält Reden in kleinen Kneipen und weiß die Leute durch sein rhetorisches Talent zu begeistern.
Er will die Menschen „mit Ideen erfüllen, durchstrahlen«, sie „begeistern, meistern“. Nur – das ist der Unterschied zu Hitler – verfangen seine schwer nachvollziehenden Ansichten nicht so stark wie die des Ver-Führers. Ein von einer Schale umgebenes Universum, Monde, die auf der planetarischen Hülle der Erde landen und sich dort öffnen? Geht’s noch?
Esoteriker unter sich
Ein Richter findet: nein. 1921 wird Bender ins Gefängnis, allerdings dadurch nicht zum Schweigen gebracht. Wieder nervt er alles, was Ohren hat, mit seiner sonderbaren Weltsicht. Nach der Haftentlassung bleibt er ein Getriebener seiner Weltanschauung. Die zwei Kinder der Benders, Gerd und Ria, versorgt die Mutter. Sie verdient als Privatlehrerin auch das meiste Geld.
Nur widerwillig übernimmt ihr Mann ab und zu ein paar Stunden. Lieber sucht er den Kontakt zu seiner Geliebten Else und zu Gesinnungsgenossen. Das sind der Astrologe Johannes Lang, der seine abstrusen astrophysikalischen Theorien wesentlich erfolgreicher auf dem Buchmarkt plazieren kann als sein Wormser Kollege, und der Augsburger Kosmologe Karl Neupert.
Letzterer gilt als Autor von „Welt-Wendung“ gemeinsam mit dem Amerikaner Cyrus Teed (Sektenname: Koresh) als Erfinder der Innenwelttheorie. Im März 1925 treffen sich die Querdenker zum fachlichen Austausch. Neupert schenkt Bender den wichtigsten Gegenstand, den er in seinem Leben erhält: einen ausklappbaren Hohlglobus, der den Innenweltkosmos im Modell zeigt.
Abstieg ins Prekariat und Jahre des Zweiten Weltkriegs
Ein Zeitsprung führt in den zweiten Teil, überschrieben: „Die Erde“. Hier folgt der Leser dem Abstieg der beiden Eheleute ins Prekariat. Zwar kommt die Esoterik-Zunft 1933 in Stuttgart noch einmal zu einem großen Astrologenkongreß zusammen. Eine eigens gegründete „Vertikalreise-Gesellschaft“ plant in Magdeburg sogar einen experimentellen Raketenflug.
Doch Bender wird an den Rand gedrängt. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Umkrempelung entwickelt er auf der Basis der Innenwelttheorie eine eigene Rassenlehre. Doch auch das kann seinen Abstieg nicht aufhalten. Schon der Umzug nach Frankfurt hat materielle Gründe. 1935 kommt der Leiter der „Menschheits-Gemeinde“ erneut ins Gefängnis, dann als mutmaßlich geisteskrank in die Psychiatrie. Regelmäßig suchen ihn epileptische Anfälle heim. Aus dem von ihm geplanten Weltbildkongreß wird nichts mehr.
Spinnert in gefährlichen Zeiten
Da Charlotte Jüdin ist, verliert der Universalgelehrte immer mehr an Gunst. Er wird aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Die Aggressionen der Umwelt nehmen zu. Schüler benehmen sich ungehörig, wenden sich ab. Wird der notorische Egomane sich in dieser Lage von seiner unermüdlich rackernden Ehefrau lossagen?
Es würde seinem Charakter genauso entsprechen wie der Größenwahn, mit dem er sich schließlich zum gekommenen Messias der Jünger von Koresh, der Sekte von Cyrus Teed in Fort Myers, Florida, erklärt. Seine neue Adeptin und Geliebte Hedwig schickt er schon mal vor in der Hoffnung, sie werde ihn bald nachholen. Denn in Deutschland zieht sich die Schlinge um den Hals des Ehepaars Bender immer weiter zu.
Setz ringt mit dem Gewicht seines Stoffes
Ein knapper dritter Teil, „Die Leere“, resümiert schließlich in staccatohaft kurzen Kapiteln das Schicksal der Benders in den Jahren des Zweiten Weltkriegs: Nächte im Bombenkeller, Bettelbriefe, Pogromstimmung, verzweifelte Emigrationspläne. Es wirkt ein bißchen so, als habe der Autor nach einem künstlerischen Mittel gesucht, die noch unbewältigte biographische Masse zu verarbeiten, ohne das Buch auf tausend Seiten anwachsen zu lassen.
So lang war der letzte Roman des Autors, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Und der Vergleich mit dem Buch von 2015 macht deutlich, wie schwer Clemens J. Setz sich mit dem Stoff getan hat. Während die rein fiktive Geschichte einer psychisch auffälligen Pflegekraft das Ergebnis eines anscheinend nie versiegenden Quells kreativer Fabulier- und Formulierkunst war, ein Buch aus einem Guß, merkt man „Monde vor der Landung“ die „Gewichtsweste“, die der Autor nach eigenem Bekunden beim Schreiben getragen habe, deutlich an.
Der reale Peter Bender sei eine schwebende „Schattengestalt über dem Roman“ gewesen, gibt Setz zu. Der Text fließt nicht so gefällig wie frühere Erzählungen des Autors. Es ist eben ein Unterschied, ob man wie in „Indigo“, dem Roman von 2012, in dem geheime Mächte und Verschwörungen noch viel breiteren Raum einnehmen, erfundene oder wie jetzt real existierende Aufzeichnungen in einen Roman einfließen läßt.
Von echten und unechten Querdenkern
Man darf das Buch ohne Frage als das bisher ambitionierteste Werk des Österreichers betrachten. Und trotz „Gewichtsweste“ weiß „Monde vor der Landung“ durchaus zu begeistern, eben weil es Peter Bender wirklich gegeben hat, weil die beiden Hauptfiguren Peter und Charlotte sehr stimmig gezeichnet sind, weil Setz, dieser belletristische Psychograph des Irrsinns, sich auch diesmal auf seine Begabung verlassen kann, dem Wahn sein literarisches Potential abzutrotzen, und weil die Leichtgläubigkeit der Menschen ein absolut zeitloses Thema ist.
Gleichwohl begegnet der Autor, der von sich selbst sagt, er nähere sich immer mehr dem Christentum an, je älter er werde, dem Begriff „Verschwörungstheoretiker“ mit Skepsis. Mancher seiner Querdenker landet im Roman im KZ. Aktuell stelle sich die Frage, gab Setz Ende März im Gespräch mit der ARD-Sendung „Druckfrisch“ mit Blick auf die Covid-19-Impfpflicht zu bedenken, ob die Verschwörungstheoretiker jetzt in der Regierung säßen, weil die ja nun das sage, was vorher die Querdenker gesagt hätten. Und er erlaubt sich den Hinweis: „Wir wissen nicht hundertprozentig genau, was im Erdkern ist.“
Brutal schlägt der Wahnsinn der Gegenwart durch
In dem selbstreferentiellen Autonomenreport „Die Känguru-Verschwörung“ wurden mit der erfundenen „Cube Earth“-Theorie, die besagt, daß unser Planet eckig und nicht rund sei, sogenannte Schwurbler und Verschwörungstheoretiker durch den Kakao gezogen. Die Anknüpfungspunkte des Buches an aktuelle Debatten sind also da. Die Verbissenheit, mit der Bender und sein Kosmologenclub an ihren haltlosen Theorien festhalten, als literarischer Beitrag zum Verständnis der sogenannten Reichsbürger und QAnon-Gläubigen?
Wenn Johannes Lang von 250.000 Kindern spricht, die zu „Blutexperimenten“ nach dem Ende des Ersten Weltkriegs „in den Netzwerken der Jesuiten und anderer hochgestellter jüdischer Finanzsysteme verschwunden“ seien, ist die Parallele zu Mythen der Gegenwart jedenfalls unübersehbar. Die jüdische Weltverschwörung, von der schon die „Protokolle der Weisen von Zion“ kündeten: Da ist sie wieder!
——————————————————–
Clemens J. Setz: Monde vor der Landung. Roman. Suhrkamp, Berlin 2023, gebunden, 528 Seiten, 26 Euro.