Die alten Reflexe funktionieren noch. Nachdem der Kalte Krieg lange Zeit mehr oder weniger ruhte, gibt es nach dem Angriff Putins auf die Ukraine wieder eine klare Einteilung der Welt in West und Ost und damit gleichbedeutend in Gut und Böse. Jetzt heißt es „Haltung zeigen“ und „klar Stellung beziehen“. Daran hat man sich, gerade im Westen, ja eigentlich bereits gewöhnt.
Hier gibt es schließlich schon lange kein Thema mehr, das zu kompliziert, zu diffizil oder zu vielschichtig wäre, als daß nicht jeder glauben würde, sich ein sofortiges Urteil bilden zu können, welches er dann auch gleich über die sozialen Netzwerke selbstbewußt in die Welt hinaus blökt.
In Zeiten der Wohlstandsgesellschaft ging es dabei allerdings in der Regel eher um „weiche Themen“. Also Probleme, die entweder keine waren, oder bei denen es, zumindest für die normalen Leute draußen in der realen Welt, keinen wirklichen Unterschied gemacht hat, was Jan, Jasmina und Luisa, samt ihrer Internet-Bubble dazu zu sagen haben.
Mit realen Problemen konfrontiert
Vermeintlichen Rassismus gegen hochgezahlte Profisportler, eine „sexistische“ Bemerkung in irgendeiner TV-Comedy-Show oder die Frage, wer und warum gerade „die Fresse“ halten soll. Selten ging es um wirklich Substanzielles – oder gar um Leben und Tod. Auch wenn viele sich genau das vor allem in den vergangenen zwei Jahren zumindest eingebildet haben.
Nun haben wir nach Jahrzehnten des Friedens wieder einen echten Krieg in Europa. Was die Generation Twitter allerdings keineswegs dazu bringt, demütiger zu werden – oder auch nur einen Moment länger darüber nachzudenken, was sie zu der Sache zu sagen hat. Das Resultat ist, bei aller Tragik, aus soziologischer Sicht höchst interessant.
Der interessierte Beobachter kann gerade quasi am lebenden Objekt studieren, wie eine Gesellschaft, die jahrzehntelang so unbeschwert leben konnte, darauf reagiert, wenn sie im Angesicht eines Krieges, der nicht so weit weg stattfindet wie sie es gewohnt ist, auf einmal mit realen Problemen konfrontiert wird.
Auto- und Öl-Konzerne kündigen Maßnahmen gegen Russland an
Da ist man dann, „in Gedanken“ bei seinen Transschwestern, „die in der Ukraine jetzt plötzlichen an der Front als Männer sterben sollen“, und das Herunterregeln der eigenen Gasheizung wird zu einem Akt des Widerstands gegen Putin hochstilisiert. In großen Medien wie der Bild-Zeitung stellen Leser so infantil dekadente Fragen wie: „Warum schließen Gucci oder McDonalds nicht einfach ihre Läden in Moskau?“ und die Fifa schließt Rußland öffentlichkeitswirksam von der Fußball-WM in der Vorzeige-Demokratie Katar aus.
Überhaupt läuft das „Woke Capital“ im Angesicht des Krieges in der Ukraine gerade zu echter Höchstform auf. Dem haben sich jetzt übrigens auch, ganz selbstlos, große europäische Ölkonzerne wie Shell, BP oder Total angeschlossen. Auch US-amerikanische Energiehändler meiden derzeit natürlich aus rein moralischen Gründen russische Öl-Importe.
BMW kündigt einen Export-Stopp nach Rußland an und will dort auch die Fertigung einstellen. Zum Glück gibt es ja aber noch viele andere Länder mit fleißigen billigen Arbeitskräften – nicht selten mit, sagen wir mal, „sehr stabilen“ Regierungen an der Macht. Volkswagen und der britische Autohersteller Jaguar haben den Verkauf ihrer Wagen in Rußland vorerst gestoppt, wollen aber wieder ausliefern, „sobald die Auswirkungen der von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten verhängten Sanktionen geklärt sind“.
Edeka-Filiale verhängt Hausverbot für Wladimir Putin
Nike hat die Bestellfunktion seines russischen Onlineshops abgestellt. Dort können Russen jetzt also zwar nichts mehr einkaufen, digitales „Window Shopping“ bleibt ihnen aber offenbar weiterhin gestattet. Sie sollen ja schließlich sehen, was sie alles haben könnten, wenn sie Putin nicht hätten.
Die Handelskette Rewe kündigte am Dienstag an, sie werde für Rewe und Penny in Deutschland Lebensmittel, die in Rußland produziert werden, auf zentraler Ebene auslisten. Aldi Süd nimmt den russischen Wodka aus dem Regal – und eine Edeka-Filiale in Kiel verhängte gleich ein Hausverbot für Wladimir Putin persönlich.
Die Großen wissen eben wie es geht! Andere, kleinere Unternehmer stellen sich da mit ihren Boykottversuchen mitunter etwas ungeschickter an. „Besucher mit russischem Paß sind bei uns im Haus unerwünscht“, verkündete ein Wirt im baden-württembergischen Bietigheim vergangenes Wochenende beifallheischend auf der Homepage seines Lokals. Es sei den Betreibern der Gaststätte zwar „bewußt, daß der ‘normale’ russische Staatsbürger keine Schuld an den kriminellen Handlungen der russischen Regierung trägt“, so hieß es in dem Netzbeitrag weiter, man wolle mit der Aktion aber ein Zeichen setzen.
Nicht alles ist erlaubt – auch nicht den Guten
Die Verkündung der Kollektivstrafe für alle Russen endete mit den pathetischen Worten: „Dies ist unser Beitrag, damit unsere Kinder in einem friedlichen Europa leben können.“ Die Reaktionen auf diesen mutigen Beitrag zum Weltfrieden fielen allerdings nicht ganz so aus, wie es der Küchen-Gandhi aus dem Kreis Raststatt wohl erwartet und gehofft hat.
Schließlich handelte es sich bei seinem General-Ausschluß eines ganzen Volkes um „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ wie aus dem Lehrbuch. Diese Form der offenen Diskriminierung konnten selbst viele lupenreine Ukraine-Ultras bei allen eigenen russenfeindlichen Tendenzen so nicht gutheißen.
Von den oftmals nicht weniger einseitigen und aggressiven Rußland-Fans und Putin-Groupies auf der Gegenseite ganz zu schweigen. Es folgte der übliche Shitstorm, der auch in Kriegszeiten freilich nicht weniger rau weht als im Frieden. Aktuell ist die Homepage des Restaurants nicht mehr aufrufbar. Im Krieg ist offenbar eben doch nicht alles erlaubt. Nicht einmal den Guten.