MÜNSTER. Wissenschaftler der Universität Münster haben in einer internationalen Bevölkerungsumfrage des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ eine identitätspolitische Spaltung europäischer Gesellschaften in zwei Lager nachgewiesen. „Wir sehen zwei ausgeprägte Gruppen mit entgegengesetzten Positionen, die wir ‘Verteidiger‘ und ‘Entdecker‘ nennen“, teilte der Sprecher des interdisziplinären Forscherteams, der Psychologe Mitja Back, am Donnerstag mit.
Die Gegenüberstellung der beiden Gruppen erinnert an die Begriffe „Somewheres“ und „Anywheres“, die der britische Journalist David Goodharts prägte. Hier entspricht die Gruppe der „Verteidiger“ den „Somewheres“ jenen ortsgebundenen, in einkommensschwächeren Bereichen arbeitenden Personen und die Gruppe der „Entdecker“ den mobilen, gut ausgebildeten „Anywheres“.
5.011 Menschen nahmen in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden an der Erhebung teil. Als Ergebnis habe sich eine neue Konfliktlinie zwischen den beiden Gruppen herausgebildet, die fast spiegelbildliche Anschauungen zeigen. „In Identitätsdebatten haben sich die Meinungen zu scheinbar unvereinbaren Konfliktpositionen verhärtet“, sagte der Wissenschaftler. Verfestigt werde der Identitätskonflikt durch die Migration, zunehmend supranationale statt nationale Politik und Krisen wie die Finanzkrise oder die Covid-19-Pandemie.
Verteidigen „ethnische und religiöse Homogenität“
In Deutschland gehörten demnach mehr als ein Drittel der Personen den beiden Lagern an, 20 Prozent den „Verteidigern“ und 14 Prozent den „Entdeckern“. Zur Gruppe der Verteidiger zählen laut der Studie Personen, die ein „enges Konzept der Zugehörigkeit zum eigenen Land“ verfolgen. So gehörten ihrer Meinung nach zu einem Land nur Personen, die auch dort geboren wurden, die Vorfahren der ethnisch-nationalen Mehrheit haben und der dominanten Religion angehören.
Sie verteidigten damit traditionelle Kriterien wie „ethnische und religiöse Homogenität“. Desweiteren fühlten sich „Verteidiger“ durch Fremde wie Moslems und Flüchtlinge bedroht oder benachteiligt. Mit der Demokratie seien sie eher unzufrieden und mißtrauisch gegenüber politischen Institutionen. „Verteidiger“ seien eher älter, religiös, weniger begütert und lebten häufiger auf dem Land.
„Entdecker“ lehnten dagegen ein enges Konzept von Zugehörigkeit nach ethnisch-religiösen Kriterien ab. Durch Fremde fühlten sie sich nicht bedroht, sondern sähen „in Zuwanderung und wachsender Vielfalt“ eine Chance. Sie fühlten sich nach Angaben der Wissenschaftler gut repräsentiert, seien zufriedener mit der Demokratie und verfügten über ein größeres Vertrauen in politische Institutionen. „Entdecker“ seien eher jung, weniger religiös, gebildeter, begüterter und wohnten eher in der Stadt.
„Entdecker“ zu 100 Prozent mit Regierung zufrieden
Unter den „Verteidigern“ in Deutschland befürworteten 61 Prozent ein enges Konzept der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit, fühlten sich 49 Prozent oder 55 Prozent durch Moslems oder Flüchtlinge bedroht und 45 Prozent kulturell benachteiligt. 21 Prozent sind laut der Studie mit der Demokratie zufrieden und elf Prozent vertrauen der Regierung und dem Parlament.
„Entdecker“ dagegen verträten in weniger als 15 Prozent ein enges religiös-ethnisches Zugehörigkeitskonzept, niemand unter ihnen fühle sich bedroht oder marginalisiert und eine große Mehrheit von 93 Prozent sei mit der Demokratie eher zufrieden und vertraue politischen Institutionen, der Regierung zu 100 Prozent, der EU zu 99 Prozent. Ähnliche Werte ergaben sich für Frankreich und Schweden.
„Verteidiger“ bevorzugen populistische Parteien
Laut den Wissenschaftlern bevorzugen „Verteidiger“ populistische Parteien und sprechen sich eher für einen „starken Führer” aus. Darüber hinaus neigten sie zu Verschwörungstheorien und seien Befürworter einer direkten Demokratie. „Entdecker“ verträten genau entgegengesetzte Meinungen.
„Die Positionierung im Konflikt als ‘Entdecker’ oder ‘Verteidiger’ kann sich stark auf die gewünschte Demokratieform auswirken. Die kulturellen Konflikte um Identität haben sich also politisch sehr verfestigt und strukturieren nun maßgeblich gesellschaftliche und politische Ansichten der Bevölkerung“, faßte Back die Ergebnisse zusammen.
Polarisierte Positionen können sich zur Mehrheit ausweiten
Mit Blick auf Polen, das die Wissenschaftler als „semi-autoritär regiertes Land“ bewerteten, liege der Anteil beider Gruppen zusammen bei 72 Prozent. Hier werde die Meinung der „Verteidiger“ durch die Regierung populistisch unterstützt, was dazu führe, daß sich auch die „Entdecker“ benachteiligt fühlten und unzufrieden mit Demokratie und Regierung seien.
„Das zeigt, wie weit der Konflikt in einem Land gehen kann: Die polarisierten Positionen können sich zur Mehrheit ausweiten“, erklärte Back. „Wie stark sich eine Bevölkerung polarisiert und wie sehr Bedrohungsgefühle und enge Identitätsideen auch Benachteiligungsgefühle und Mißtrauen nach sich ziehen, variiert also je nach politischem System.“ Seiner Ansicht nach ließen sich Identitätskonflikte somit politisch beeinflussen. (hl)