Am Tag vor der vierten Wahl binnen zwei Jahren in Israel hatte Benjamin Netanjahu den Machane Jehuda Markt besucht. Ein Pulk von Bodyguards, Fotografen und Anhängern, mit dem Premierminister in der Mitte, drängte sich ohne Abstand durch die Straßen des berühmten Jerusalemer „Schuks“.
„Wollt ihr noch eine Wahl?“, rief der Chef der liberal-konservativen Likud-Partei ins Mikrofon. „Nein“, schrie die Masse zurück. „Dann wählt Likud.“ Der Abstecher auf den Markt gehört zu den eingeübten Wahlkampfritualen Netanjahus. In diesem Jahr war er allerdings nicht selbstverständlich, denn noch vor einigen Wochen fuhr die israelische Regierung in der Corona-Pandemie eine äußerst radikale Lockdown-Politik.
Nun öffnet sich das Land, Restaurants und Einkaufszentren sind wieder zugänglich, zum Teil nur für Besitzer eines „Grünen Passes“. Rund die Hälfte der Israelis hat inzwischen zwei Impfdosen erhalten. Netanjahu hatte rechtzeitig bei Pfizer bestellt, der Pharmakonzern lieferte gleich im doppelten Sinne – nicht nur den Impfstoff, sondern auch Schützenhilfe für den wahlkämpfenden Premier.
Pfizer-Chef Albert Bourla zeigte sich im israelischen Fernsehen beeindruckt von der „Besessenheit“ Netanjahus bei der Beschaffung des Vakzins. Der nahm die Vorlage als Meister der Inszenierung dankbar auf und ließ bei Interviews und Wahlkampfauftritten kaum eine Gelegenheit ungenutzt, Bourla zu zitieren und hinzuzufügen: „Richtig, ich bin besessen vom Leben der Bürger Israels.“ Letztlich, so die Hoffnung, würden ihn die Wähler dafür – und vielleicht auch für die jüngsten Normalisierungsabkommen mit vier arabischen Staaten – mit einer Mehrheit in der Knesset belohnen.
Die Kategorien „links“ und „rechts“ zählen nicht mehr
Doch einen Tag nach der Wahl zeichnet sich ab, daß diese Strategie offenbar nicht durchgeschlagen hat. Es wird weiter ausgezählt, und ein Endergebnis ist erst in den kommenden Tagen zu erwarten. Klar ist aber schon: Wieder einmal haben die Israelis äußerst knapp gewählt. Innenpolitische Stabilität ist damit auch nach der vierten Wahl binnen zwei Jahren nicht in Sicht. Schuld daran ist die Polarisierung in der Bevölkerung, die sich in erster Linie an der Person Netanjahus festmacht. Während seine Anhänger den Regierungschef als „König Israels“ verehren, sehen Kritiker in ihm einen „Kriminellen“. Daß Netanjahu einen Korruptionsprozeß am Hals hat, stört fast nur die, die sowieso schon gegen ihn sind.
Längst sind die Feinde „Bibis“, wie ihn Freunde und Gegner gleichermaßen nennen, nicht mehr nur im linken Spektrum, sondern auch unter zahlreichen ehemaligen Weggefährten zu finden. Die einen fechten persönliche Animositäten mit dem Premier aus, andere stören sich an seiner engen Kooperation mit den ultra-orthodoxen jüdischen Parteien, und wieder andere haben genug vom „Personenkult“, den sie Netanjahu vorwerfen.
Deswegen bringt es ihm nichts, daß die konservativen und religiösen Parteien nicht nur nach wie vor die klare Mehrheit der Knesset-Abgeordneten stellen werden, sondern ihre Dominanz sogar weiter ausbauen konnten. In Israel zählen nicht mehr die Kategorien „links“ und „rechts“, sondern „Netanjahu-Lager“ oder „Netanjahu-ersetzen-Lager“, wie es einige Fernsehsender am Abend in ihren Prognosen ausdrückten.
Kuriose Koalitionsoptionen
Nach Auszählung von knapp 90 Prozent der Stimmen kommt das Netanjahu-Lager aus vier rechten sowie orthodox-religiösen Listen nur auf 52 der insgesamt 120 Parlamentssitze. Naftali Bennett von der Jamina-Partei („Nach rechts“) hatte sich im Wahlkampf mehrere Optionen offengehalten und sich so geschickt als Königsmacher positioniert. Laut den ersten Prognosen hätte er dem Premier womöglich zu einer hauchdünnen Mehrheit von 61 Sitzen verhelfen und sich das mit wichtigen Ministerposten bezahlen lassen können.
Nach aktuellem Auszählungsstand reicht es jedoch rechnerisch nicht mehr. Sollte es dabei bleiben, bliebe dem gewieften Strategen Netanjahu noch die Option, einzelne Abgeordnete mit Regierungsposten zu ködern und so zum Lagerwechsel zu veranlassen. Einige Vertreter seiner Partei liebäugeln auch damit, ausgerechnet eine islamisch-arabische Splitterpartei als Mehrheitsbeschafferin ins Boot zu holen.
Vor allem unter linken Israelis dürfte die Resignation derweil mit jeder Wahl größer werden. Hatte sich der einstige Armee-Chef Benny Gantz mit seinem Parteienbündnis „Blau-Weiß“ bei den vergangenen Wahlen noch mit Netanjahus Likud messen lassen können, fehlte es dieses Mal an einem Herausforderer auf Augenhöhe. Nachdem Gantz allen gegenteiligen Versprechungen zum Trotz doch in Netanjahus Kabinett eingetreten war und sich dort von dem Politikprofi hatte vorführen lassen müssen, stürzte seine Partei ab.
Der Vorsitzende der nun zweitplatzierten Mitte-Partei Jesch Atid („Es gibt eine Zukunft“), Jair Lapid, wollte wiederum während des Wahlkampfes nicht einmal klar sagen, dass er für das Amt des Premierministers kandidiert. Und wirklich linke Parteien kommen schon seit einiger Zeit nicht mehr über zehn Prozent hinaus.
Wollte der Anti-Bibi-Block den verhaßten Premier ablösen, müßte er linksradikale, sozialdemokratische, zentristische, rechtskonservative und arabische Netanjahu-Gegner zusammenbringen – ein verwirrendes ideologisches und wahrlich unvorstellbares Potpourri. Vielleicht bleibt am Ende tatsächlich nur die schon im Vorfeld viel beschworene Option einer fünften Wahl im Herbst.