HAMBURG. Grünen-Chef Robert Habeck hat davor gewarnt, kritiklos identitätspolitische Forderungen zu übernehmen. „Ich glaube nicht, daß eine Gesellschaft Frieden mit sich selbst gefunden hat, wenn jede Gruppe sich nur darauf konzentriert, jeweils sich selbst zu repräsentieren“, sagte Habeck der Zeit. Man dürfe „geschlechtliche, ethnische, Herkunfts- oder Bildungsidentitäten“ nicht jeweils verabsolutieren, „sondern in eine plurale, auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Spielregeln beruhende Gesellschaft“ übersetzen.
Er habe allerdings Verständnis dafür, wenn beispielsweise eine Minderheit, die die „Ehe für alle“ fordert, „kämpferische Positionen“ aufbaue, weil die Mehrheit diese Position nicht zulasse. Dies führe aber zwangsläufig zu einer „moralischen Überhöhung“. Mit Blick auf seine Partei ergänzte Habeck: „Da aber viele Positionen der emanzipatorischen, liberal-grünen Bewegung mittlerweile mehrheitsfähig geworden sind, brauchen wir nicht mehr so auf eine höhere Wahrheit zu pochen – und tun es auch nicht mehr.“
„Strukturelle Entwicklungen“ als Ursache
Die jüngsten Entwicklungen in den USA führte der Grünen-Politiker auf „strukturelle Entwicklungen“ zurück, die die Republikaner sich zunutze gemacht hätten. „Ein Zusammenspiel aus ökonomischen Verlusten, Angst vor dem Abstieg und dem Gefühl, keinen Platz, keinen Wert mehr in der Gesellschaft zu haben. Das ist eine gefährliche Mischung.“
Hierbei sei der Zusammenhalt durch Sprachregelungen verlorengegangen. „Im Wahlkampf 2016 war es so, daß man auf der Homepage der Demokraten eine Reihe verschiedener Identitäten anklicken konnte, ich glaube, siebzehn, und für jede gab es ein eigenes Angebot – man konnte Latino-Frau sein, Homo-Mann, aber das gesellschaftliche Ganze, we, the people, das gab’s eigentlich nicht mehr.“
Die Grünen sollten deshalb auch die vermeintlichen Verlierer von solchen gesellschaftlichen Entwicklungen beachten. „Als Partei, die so einen Veränderungsanspruch hat wie meine, arbeiten wir darauf hin, für unsere Politik Mehrheiten zu gewinnen.“ Die Summe von Partikularinteressen reiche nicht aus, „um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Damit ist man zu anfällig für Populismus.“
Linke Intellektuelle kritisieren Fokussierung auf Milieupolitik
Unter Identitätspolitik versteht man die Absicht, aus Herkunft, Geschlecht, Rasse oder religiöser Überzeugung seine Interessenlage zu bestimmen und sein politisches Handeln abzuleiten. In Deutschland kritisieren linke Intellektuelle wie der Autor Bernd Stegemann oder der Politologe Nils Heisterhagen die zunehmende Fokussierung der Linken auf das Thema Identitätspolitik.
Die Kernbotschaft „Wir zuerst!“ trage zur „Selbstradikalisierung“ bei, schrieb Stegemann am Montag im Spiegel. Wer nur an die eigene Opfergruppe denke, verliere das eigentliche Ziel linker Politik aus den Augen: den Kampf gegen materielle Ungerechtigkeit. (ls/ha)