Am Rand des Badesees von Naisiai, einem kleinen Ort im Norden Litauens, erhebt sich eine merkwürdige Installation aus Metall. Die Sommergäste haben dafür in der Regel kaum einen Blick. Es sei denn, die Fontänen werden in Gang gesetzt, die man in den Mäulern der großen Schlangen untergebracht hat, die sich mit ihren meterlangen Leibern am Ufer erheben.
Nur wer genauer hinsieht, erkennt die Kronen auf den Köpfen der Tiere. Die meisten, Einheimische wie Touristen, brauchen keine Erklärung dafür, nur der Auswärtige wird Google bemühen, um die in fließendem Litauisch angebrachte Erläuterung zu übersetzen: „Die Familie des Schlangenkönigs“.
Der Schlangenkönig gehört bis heute zur Folklore der Balten, aber auch der Slawen, und in seiner Deutschen Mythologie (1835) vermerkte Jakob Grimm: „Auf Wiesen und Weiden, auch in Häusern kommen Schlangen zu einsamen Kindern, saufen mit ihnen Milch aus der Schüssel, tragen Goldkronen, die sie beim Milchtrinken vom Haupt auf die Erde niedersetzen, und manchmal beim Weggehen vergessen; sie bewachen die Kinder in der Wiege und den Größeren weisen sie Schätze: sie zu tödten bringt Unglück. Jedes Dorf weiß von eignen Schlangen.“
Verehrung von Schlangen Teil des alten Glaubens
Diese „eignen Schlangen“, auch „Hausschlangen“, waren „gute“ Schlangen (im Islam gibt es sogar „gläubige“ Schlangen, ganz ähnlich im Hinduismus). Sie verkörperten offenbar den Geist, der über das Heim wachte und für Gedeihen wie gute Ernte sorgte. Der Schlangenkönig als ihr Oberhaupt besaß große Macht und kannte das Versteck von Horten. Das offenbarte er dem Menschen, dem er wohlwollte.
Aber es gab auch die, von denen erzählt wurde, daß sie dem Schlangenkönig seine Krone stahlen – die er beim Spielen oder dem Milchtrinken absetzte – und die unendlich wertvoll war, was dem Dieb zu Heil oder Unheil ausschlug. Man kann das Motiv vom Raub der Krone entweder als märchenhaft verstehen oder als Hinweis darauf, daß es in der Kollektiverinnerung ein Wissen gab, daß der Schlangenkönig und überhaupt die Verehrung von Schlangen Teil eines sehr alten Glaubens waren, der später verdrängt wurde.
Zu der eingangs erwähnten Installation gehört auch, daß die Reptilien sich drohend einer Anhöhe nähern. Die ist einem der heiligen Hügel nachempfunden, die in der Frühgeschichte zentrale Kultplätze des baltischen Raums waren. In den waren während des 4. vorchristlichen Jahrtausends Stämme eingedrungen, die man den Indoeuropäern zurechnet. Sie setzten sich gegen die Einheimischen durch und brachten religiöse Vorstellungen mit, die eher einen „uranischen“ (himmlischen) als einen „chthonischen“ (erdgebundenen) Charakter hatten.
Beispiel lebendiger katholischer Volksfrömmigkeit
Der Glaube der älteren Bevölkerung verschwand zwar nie ganz. Aber im Laufe der Zeit setzte sich nicht nur die Sprache der Migranten durch, sondern auch deren religiösen Leitideen. Im Zentrum der baltischen Religionen standen nun Gottheiten wie Perkons, eine Art Thor, Dievs, dessen Name nicht zufällig an Zeus erinnert, oder die Sonnengöttin Saule.
Über einen langen Zeitraum, länger als im Rest Europas, erhielt sich diese Variante des Heidentums. Erst mit der gewaltsamen Missionierung der Prussen, Kuren, Letten und Esten und dem Übertritt des Großfürsten von Litauen zum Christentum im 14. Jahrhundert wurde auch das Baltikum Teil des Abendlands. Der größte Teil seiner Völker schloß sich nach der Reformation den Evangelischen an.
Mit Ausnahme Litauens, das heute als eines der am wenigsten säkularisierten Gebiete unseres Kontinents gilt. Was nicht bedeutet, daß das „kulturelle Substrat“ (Marija Gimbutas) der vorchristlichen Zeit ganz verschwunden wäre. Der berühmte „Berg der Kreuze“ – eines der eindrucksvollsten Beispiele lebendiger katholischer Volksfrömmigkeit – ist keine zehn Kilometer Luftlinie von Naisiai entfernt. Dazwischen liegen zahlreiche Orte, von denen die Litauer noch wissen, daß sie den Vorfahren einmal heilig waren.