Die Regentage haben ein Ende. Es ist bis zu 30 Grad heiß geworden in Kiew. Mückenplagen, mangelnde Körperreinigung und Lethargie bestimmen zunehmend das Leben in den Zelten auf dem Maidan. Zur Amtseinweihung des am 25. Mai in der ersten Abstimmungsrunde mit 54,7 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählten Großfabrikanten Petro Poroschenko (48) haben nur wenige der Kampierer die fünf Minuten Fußmarsch zum Hügel mit der Sophienkathedrale auf sich genommen.
Um den abgesperrten Vorplatz der im 11. Jahrhundert errichteten Kirchenanlage, Weltkulturerbe von beeindruckender Schönheit, scharen sich nur einige Hundert Schaulustige. Doch politisch sind sie auch: Tonia und Tarras haben sich in traditionelle „Wischiwankas“ gekleidet und eine große ukrainische Flagge an ihren Kinderwagen befestigt. Der Name des Sprößlings: Lubamir. Zu Deutsch „Liebe und Frieden“.
Tonia, die als ethnische Russin aus Simferopol auf der Krim stammt, hat sich entschieden: Für die Identität als Ukrainerin. Die Eltern sind zurückgeblieben. „Wir trauen Poroschenko“, so das junge Paar, „weil er von Dezember an den Maidan unterstützt hat – und als Unternehmer weiß, wie man Menschen führt und organisiert.“
Keine Föderalisierung, aber NATO-Beitritt als Ziel
Der Nachfolger des gestürzten Viktor Janukowitsch könne so gar die von Russland annektierte Halbinsel zurückholen, sind die beiden überzeugt. „Wenn Wohlstand und Freiheit auf die Leute dort eine neue Anziehungskraft ausüben.“ Wenn. „Die Krim war und bleibt ukrainisch“, hatte der neue Präsident bei seiner Antrittsrede im Parlament gesagt.
Doch einen Krieg mit Rußland wolle er nicht. Poroschenkos kurzes Treffen mit Wladimir Putin am Rande der „D-Day“-Feierlichkeiten in Frankreich mag den patriotischen Ukrainern nicht gefallen haben – und kam doch der Kriegsunwilligkeit im Lande entgegen. Die Amnestieangebote und der geplante Rückzugskorridor für „russische Söldner“ nützen der Eigendarstellung. Frieden werden sie allein nicht bringen. Die russische Regierung hat bereits klargestellt, daß der Schlüssel zur Lösung des Problems in Moskau liege.
Und die hier anvisierte Föderalisierung des ukrainischen Staates, sowie ein Stopp der Pläne zum Beitritt des Landes in EU und NATO sind für die neue Führung in Kiew indiskutabel. Professor Volodymyr Vasylenko hat einst den Erstentwurf zur Unabhängigkeit der Ukraine 1991 verfaßt und die Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung begleitet.
Jetzt berichtet er gegenüber „The UkrainianWeek“ über Rußland, daß „es durchgängig geglaubt hat, daß die ukrainische Unabhängigkeit eine temporäre Anomalie darstelle und daß die Ukraine früher oder später nach Rußland zurückkehren würde, um Teil der einen und unteilbaren Einheit zu sein“.
Weißrußlands Diktator stärkt das eigene Renommee
Derartige Probleme sind es wohl auch, die den weißrussischen Staatsführer Alexander Lukaschenko dazu bewogen, persönlich nach Kiew zu reisen. Auf der Straße wird seine verbale Unterstützung für die neue Regierung bejubelt – eine Reaktion auf die öffentliche Kritik an Putins Krim-Annexion.
Der 33jährige Ulyan aus Minsk ist seit Monaten auf dem Maidan im Einsatz, und schüttelt dagegen nur mit dem Kopf: „Es gibt doch nichts, wovor Lukaschenko mehr Angst hat als vor einem Maidan bei uns in Belarus.“ Der seit 20 Jahren herrschende Präsident habe selbst alle Verbindungen nach Westen gekappt, und eine „gesellschaftliche Stagnation“ zu verantworten.
Seine Heimat sei bereits heute eine „inoffizielle Provinz Rußlands“. „Deshalb“, so der in Soldatenuniform gekleidete Ulyan, „kann ich auch nicht zurück in meine Heimat. Die würden mich dort sofort verhaften.“ Sollte sich die Kiewer Zeltstadt auflösen, hofft er auf Asyl in Deutschland.
Auch Georgien erkämpfte Souveränität mit Verlusten
Schon bald könnte es dazu kommen. Die Beschwerden aus der Bevölkerung über die blockierte Innenstadt werden lauter. Die privaten Geldspenden gehen zurück. Und der neue Präsident hat sich geweigert, auf der Bühne jenes Platzes zu sprechen, dem er sein Amt verdankt. Selbst auf dem Sophienplatz zeigte er sich kaum länger als auch US-Senator McCain oder Bundespräsident Gauck. Einzig der frühere georgische Präsident Michel Saakaschwili, in Begleitung seiner niederländischen Ehefrau, stellt sich der Menge am Absperrgitter und schüttelt Hände.
„Grusia, Grusia“, rufen die Besucher freudig. „Georgien, Georgien.“ Es war Saakaschwili gewesen, der sich bereits 2008 einen Schlagabtausch mit Putin geliefert hatte – und im kaukasischen Fünftagekrieg endgültig die abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien verlor. Auf eine komplette Invasion des unterlegenen Georgien verzichtete die russische Führung damals. Seinen Kritikern mag der umstrittene Politiker entgegenhalten, die Entscheidung um die Grenzen der ehemaligen georgischen SSR gesucht zu haben.
Die kulturelle Identität im Kernland wurde gestärkt und der Weg gen Westen unbeirrt fortgesetzt. Auf dem EU-Gipfel im litauischen Vilnius im vergangenen November erhielt Tiflis die langersehnte EU-Assoziierung. Die Ukraine hatte damals einen überraschenden Rückzieher gemacht – und Präsident Janukowitsch über Nacht ein Problem mit Protestierern auf dem Maidan.
Patriotische Welle in Blau-Gelb
Die 16jährige Musikstudentin Maria war damals als Unterstützerin vor Ort: Sie putzte und kochte im besetzten Rathaus. Für Poroschenkos Publikum spielt sie auf ihrer Flöte. Dem neuen Präsidenten gegenüber bleibt sie dennoch distanziert: „Er war einfach nur klug genug, nicht soviel zu reden wie andere Politiker.“ Während andere Volksvertreter zunehmend enttäuscht hätten, seien Poroschenkos ursprünglich kleine Umfragewerte sukzessive angestiegen.
Vom „Fehler der Orangenen Revolution“ 2004 habe man gelernt: Auf ein neues Staatsoberhaupt allein komme es nicht an. „Wichtig ist mir“, sagt Maria, „daß die Menschen in Kiew heute viel mehr Ukrainisch sprechen als noch vor einem halben Jahr.“ Die Abnabelung von Rußland schreitet voran.