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Polio-Wildviren im Abwasser entdeckt: Warum die Kinderlähmung zurückkommen könnte

Polio-Wildviren im Abwasser entdeckt: Warum die Kinderlähmung zurückkommen könnte

Polio-Wildviren im Abwasser entdeckt: Warum die Kinderlähmung zurückkommen könnte

Das Bild zeigt einen kleinen Jungen in Indien, der eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung bekommt.
Das Bild zeigt einen kleinen Jungen in Indien, der eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung bekommt.
Ein kleiner Junge in Indien bekommt eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung: Krankheitserreger in Hamburger Abwasser entdeckt. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Umer Qadir
Polio-Wildviren im Abwasser entdeckt
 

Warum die Kinderlähmung zurückkommen könnte

In Hamburg finden Wissenschaftler Polio-Wildviren im Abwasser. Bei Ungeimpften kann das zur in Europa eigentlich ausgestorbenen Kinderlähmung führen. Die Krankheit hatte in der Vergangenheit prominente Opfer gefordert.
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Vor drei Jahren wurde auf dem World Health Summit in Berlin verkündet, die Kinderlähmung bis 2026 zu „besiegen“ und dafür weltweit 370 Millionen Kinder in armen Ländern gegen Poliomyelitis zu impfen. „Wir stehen kurz vor der Ausrottung der Kinderlähmung, womit sie erst die zweite Krankheit nach den Pocken wäre, die in die Geschichte übergehen würde“, erklärte der flämische Chirurg Hans Kluge, seit 2019 Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa.

Ob die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) seither 4,8 Milliarden Dollar von Stiftungen, Philanthropen und aus Staatshaushalten erhalten hat, ist nicht verifizierbar, aber ihr gestecktes Ziel ist inzwischen ohnehin unerreichbar – im Gegenteil: es droht die Rückkehr dieser seit 2002 offiziell europaweit ausgerotteten Vireninfektion. Denn seit Monaten werden in Abwasserproben deutscher Großstädte wieder Polioviren gefunden. Und am 13. November wurde vermeldet, daß in einer Hamburger Abwasserprobe sogar Polio-Wildviren vom Typ 1 (WPV1) nachgewiesen wurden. Genetisch ist dieser Fund mit einem WPV1-Isolat aus Afghanistan verwandt.

„Das Risiko für die allgemeine Bevölkerung wird aufgrund der hohen Impfquoten und des isolierten Nachweises im Abwasser durch das Robert Koch-Institut (RKI) und die Fach- und Reaktionsgruppe Seuchenschutz des Öffentlichen Gesundheitsdienstes als sehr gering eingeschätzt“, teilte die Hansestadt mit. WPV1 zirkuliere in Afghanistan und Pakistan, bestätigte Fälle gab es aber auch im Iran (2019), Malawi (2021) und Mosambik (2022). WPV1 kann bei Ungeimpften – darunter ungeimpfte Kleinkinder und Zuwanderer aus Polio-Risikogebieten– tatsächlich zu einer Kinderlähmung führen. Dem RKI seien aber bislang deutschlandweit keine klinischen Poliomyelitis-Fälle bekannt.

Letzte Kinderlähmung in Deutschland war 1990

Das Referenzzentrum für Poliomyelitis am RKI untersuche zusammen mit dem Umweltbundesamt nun fortlaufend Abwasserproben. Der WPV1-Nachweis stamme aus einer Abwassersammelprobe aus Hamburg und angrenzenden Bundesländern, daher sei eine genaue örtliche Bestimmung, wo das Virus durch menschliche Ausscheidung in das Abwasser gelangte, unmöglich. Auch könne nicht festgestellt werden, ob eine oder mehrere Personen in Deutschland mit WPV1 infiziert sind.

Die letzte in Deutschland erworbene Kinderlähmung wurde 1990 erfaßt. Die letzten beiden importierten klinischen Fälle wurden 1992 registriert. Die seit 2024 in deutschen Abwasserproben nachgewiesenen Funde waren allerdings impfstoffabgeleitete Polioviren des Typs 2 (VDPV), die seit mehreren Jahren auch in anderen europäischen Ländern wie Spanien, Polen, Finnland und dem Vereinigten Königreich zirkulieren. Grundsätzlich könnten auch VDPV Kinderlähmung verursachen, doch in Deutschland sei wegen der hohen Impfquote (bei Sechsjährigen: 88 Prozent) „von einer Herdenimmunität innerhalb der Bevölkerung auszugehen“. Die 77prozentige Impfquote der zweijährigen Kinder ist hingegen zu wenig für eine Herdenimmunität. Die hochansteckenden Polioviren werden durch Schmierinfektionen (Stuhl-Hand-Mund) übertragen. Das Hamburger Trinkwasser sei aber bislang nicht betroffen.

Roosevelt war ein prominentes Polio-Opfer

Die Poliomyelitis ist eine bislang nicht therapierbare Krankheit, die bei Ungeimpften oder nicht ausreichend immunisierten Personen zu dauerhaften Schädigungen führen kann. Für die meisten verläuft die Erkrankung allerdings häufig symptomlos, bei einem Viertel der Fälle kommt es zu grippeähnlichen Erscheinungen, und bei bis zu fünf Prozent tritt eine Hirnhautentzündung auf. In Einzelfällen kommt es zu Lähmungen, die auch die Atemmuskulatur betreffen und damit tödlich enden können, wenn der Patient nicht mit einer „Eisernen Lunge“ am Leben erhalten wurde. Vor der Einführung von Schluckimpfungen (DDR/West-Berlin/Österreich/Niederlande: 1960; Bundesrepublik ab 1962) gab es jährlich Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle.

Der spätere US-Präsident Franklin D. Roosevelt infizierte sich mit 39 Jahren mit Polio und konnte seitdem nicht mehr selbständig gehen. Der Regisseur Francis Ford Coppola wurde durch Polio im Alter von zehn Jahren vorübergehend halbseitig gelähmt. Der britische Science-fiction-Autor Arthur C. Clarke, der seit 1956 auf Ceylon lebte, erkrankte hingegen erst 1988 dort mit 71 Jahren an Polio und war seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen. Roosevelt gründete mit dem Philanthropen Basil O’Connor zwei Stiftungen zur Unterstützung von Polio-Geschädigten und zur Impfstoffentwicklung.

Die Schluckimpfung wurde in Deutschland 1998 eingestellt

Diese National Foundation for Infantile Paralysis finanzierte den aus inaktivierten Polioviren bestehenden Totimpfstoff (IPV) von Jonas Salk (University of Pittsburgh), der 1955 vorgestellt wurde. Dieser muß per Spritze verabreicht werden. Albert Sabin (University of Cincinnati), der wie Salk aus einer jüdisch-russischen Einwandererfamilie stammt, setzte hingegen auf einen riskanteren, aber wirksameren Lebendimpfstoff (OPV). Diese Schluckimpfung wurde ab 1956 in der Sowjet-union an Kindern getestet und von dem Virologen Michail Tschumakow in die Massenproduktion überführt. Das „Sowjet-Vakzin“ wurde erst 1961 (Typ 1) bzw. 1962 (Typ 2/3) in den USA zugelassen.

1998 wurde die Schluckimpfung in Deutschland eingestellt, und es wird nur noch Salks IPV an Kinder verabreicht. 2016 wurde auf WHO-Empfehlung der Typ 2 aus dem Impfstoff herausgenommen – eine der Ursachen für die nun bemerkten Typ-2-Viren-Funde im Abwasser. Der WPV1-Nachweis dürfte hingegen eher auf Einschleppung durch Zuwanderung oder Fernreisende zurückzuführen sein. Das RKI empfiehlt zwar deren Impfung, aber die praktische Umsetzung bleibt den Ländern und Kommunen überlassen.


Einige weitere „alte“ Infektionserkrankungen sind in Deutschland wieder vermehrt aufgetreten. So wurden deutlich mehr Masernfälle gezählt, und auch Keuchhusten wies mit 22.500 Meldungen im Jahr 2024 die höchste Fallzahl seit zehn Jahren auf. Atypische Lungeninfektionen durch Mykoplasmen traten überraschenderweise vermehrt bei jungen Menschen mit teilweise schweren Verläufen auf.

Erklärt wird dies mit der Rücknahme der Quarantänebestimmungen aus der Corona-Zeit; mit der Reduktion von Sozialkontakten ging auch die Übertragung damals zurück. Seit 2023 kommt es besonders bei Kindern zu einem steilen Anstieg der Tuberkulose mit zum Teil schwer behandelbaren, multiresistenten Keimen. Besorgniserregend ist die Zunahme der Syphilis mit steigenden Resistenzraten.

Diskutierte Gründe für das vermehrte Auftreten dieser altbekannten und eigentlich unter Kontrolle gehaltenen Infektionen sind einerseits die anwachsende Impfmüdigkeit – insbesondere bei Masern, Polio und Keuchhusten. Auf der anderen Seite führt die Massenmigration sowie die hohe Reiseaktivität zu deutlich mehr importierten Krankheitsfällen. (js)

Aus der JF-Ausgabe 48/25.

Ein kleiner Junge in Indien bekommt eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung: Krankheitserreger in Hamburger Abwasser entdeckt. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Umer Qadir
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