Als Kurzformel steht der „20. Juli 1944“, der Tag des mißglückten Attentats auf Adolf Hitler, für die Vielschichtigkeit der Opposition gegen die NS-Diktatur, der in der Erinnerungskultur der Berliner Republik ein prominenter Platz reserviert ist. Dementsprechend steigt an runden Gedenktagen die Zahl der Veröffentlichungen, mit der eine ohnehin recht vitale Widerstandsforschung den Buchmarkt bedient. Wobei sich deren Schwerpunkte seit einiger Zeit fort von der Ereignis-, hin zur Rezeptionsgeschichte mit ihren erinnerungspolitischen Deutungskämpfen sowie auf Biographien bisher vernachlässigter Mitstreiter des Hauptakteurs Claus Schenk Graf von Stauffenberg verlagert haben.
Diese Tendenz spiegeln auch drei Publikationen, von denen sich die erste abermals dem dramatischen Handlungsablauf am Nachmittag und Abend des 20. Juli 1944 im militärischen Zentrum der Verschwörung, dem Berliner „Bendlerblock“, widmet, ohne Neues zu bringen, während eine Vortragssammlung Braunschweiger Historiker der kontroversen wissenschaftlichen und literarisch-künstlerischen „Aufarbeitung“ dieses Schicksalstages nachspürt und Wolfgang Graf Vitzhum den Völkerrechtler Berthold Schenk Graf von Stauffenberg aus dem historiographischen Schatten holt, in den ihn die Tat seines jüngeren Bruders bisher verbannte.
Ein Buch stützt sich auf veraltete Narrative
Der von Johannes Tuchel, dem Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW), und seiner Mitarbeiterin Christin Sandow vorgelegte, aufwendig gestaltete Band über den „20. Juli 1944 in Berlin“ führt auf 120 Seiten zunächst weit weg vom Ort der Geschehnisse, zurück in die wilhelminische Zeit, als der gewaltige, zwischen Tiergarten und Landwehrkanal gelegene Gebäudekomplex mit seinen 900 Diensträumen als Domizil des Reichsmarineamts, des Admiralsstabs und des Chefs des Marinekabinetts errichtet wurde.
In einer tour d’horizon versuchen Tuchel und Sandow die penibel rekonstruierte Topographie des Hauses in die deutsche Zeitgeschichte einzubetten. Als schärfste Zäsur, erzwungen durch das Versailler Diktat, erweist sich dabei die drastische Verkleinerung der Marine, die infolgedessen ihr überdimensioniertes Hauptquartier weitgehend räumen muß. Seit 1919 residierte dort das Reichswehrministerium mit den Chefs der Heeres- und Marineleitung. Deren „Verstrickungen“ in die große Politik, vom Kapp-Putsch über die mit sowjetrussischer Hilfe organisierte Wiederaufrüstung, über die Folgen der NS-Machtübernahme für die Reichswehr, deren Allianz mit den SS-Mördern während des „Röhm-Putsches“, bis zu den Effekten, die 1935 die Wiedergewinnung der Wehrhoheit auslöst, sie werden genauso streiflichtartig berührt wie Albert Speers Planungen für ein neues Reichskriegsministerium in der „Welthauptstadt Germania“.
Für diese leider mit erklecklichen Druck- und Deutschfehlern garnierte Rahmenerzählung stützen sich die Autoren wesentlich auf antiquierte Narrative des Fritz-Fischer-Schülers und langjährigen Zeit-Redakteurs Volker Ullrich und des ebenso auf Selbstverdunklung der deutschen Geschichte abonnierten Freiburger Historikers Ulrich Herbert. Kein Wunder daher, wenn für sie der Primat des Militärischen im allgemeinen, die Herausforderung der britischen Seemacht im besonderen, die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg tragen.
Attentatsmotive für „Toleranz und Integration“ gedeutet
Der beginnt bei ihnen im November 1914 mit einer Schlappe für die kaiserliche Marine, als die Royal Navy die „deutsche Südostasienflotte“ (gemeint sind drei Einheiten des Kreuzergeschwaders, das in Tsingtau stationiert war) bei den Falklandinseln versenkt. In dieser klitternden Manier geht es weiter bis zu der als „Massenmigration zumeist deutschstämmiger Flüchtlinge“ vernebelten ethnischen Säuberung der deutschen Ostprovinzen und bis zur sensationell-revisionistischen Entdeckung, daß der „Führer“ seinen klassischen Bilanzsuizid bereits in der Nacht vom 29. auf den 30. April 1945 verübt habe.
Korrekt referiert wird hingegen eine pikante Episode aus der Geschichte des Hauses. Helga, Tochter des seit 1930 amtierenden Chefs der Heeresleitung Kurt von Hammerstein-Equord, kopierte für ihren Geliebten Leo Roth, eine Schlüsselfigur des Nachrichtenapparats der KPD, regelmäßig geheime Dokumente aus dem Büro ihres Vaters zwecks Weiterleitung nach Moskau. Darunter auch das Protokoll jener legendären Besprechung vom 3. Februar 1933, auf der der frisch ernannte Reichskanzler Adolf Hitler der Reichswehrführung die Grundlinien nationalsozialistischer Innen- und Außenpolitik entfaltete. Das klingt nach amüsanter Räuberpistole, verrät aber tatsächlich Erschütterndes über von Hammerstein als Exponenten einer – damals wie heute – politisch-moralisch nur bedingt zurechnungsfähigen Führungselite, die Verantwortung für die Geschicke Deutschlands trägt und dabei nicht einmal Autorität für die eigenen Kinder ist.
Das voluminöse Werk, das im Hauptteil ein mit zahlreichen faksimilierten Dokumenten und Fotos illustriertes Stundenprotokoll über den Ablauf der Ereignisse im Bendlerblock bietet, vermittelt zwar keine neuen Erkenntnisse und taugt daher nur als Begleitbuch zur GDW-Dauerausstellung zum 20. Juli 1944. Aber die erfreulich umfangreiche, mit Kurzbiographien versehene Porträtgalerie vergegenwärtigt doch, daß es sich bei den Verschwörern weder um eine „kleine Clique“ (Adolf Hitler) noch, wie allein schon die Vielzahl imposanter preußisch-deutscher Greifvogel-Physiognomien (unbeabsichtigt) beweist, um eine vaterlandslose Truppe handelte, die ihr Leben nicht etwa für Volk und Reich, sondern für den im kosmopolitischen Nirwana angesiedelten „Rechtsstaat, für Toleranz und Integration“, gegen „Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung“ (GDW-Jargon) wagte.
Rettung der Nation als zentrales Motiv Stauffenbergs
Die Rettung der Nation, die seit dem 19. Jahrhundert zugleich selbstverständlich Rechtsstaat war, steht als zentrales Tatmotiv auch im Mittelpunkt der Stauffenberg-Biographie Kurt Finkers, die in der DDR zwischen 1967 und 1989 in sieben Auflagen mit 90.000 Exemplaren erschienen ist. Der Braunschweiger Historiker Matthias Steinbach informiert anhand des Finker-Nachlasses über die heftigen Krämpfe, die diese von Positionen marxistischer Geschichtspolitik abweichende Arbeit bei SED-Ideologen auslöste.
Er wirft damit ein helles Licht auf die Probleme, die ihnen die Vereinnahmung eines lange als Klassenfeind markierten, von „romantisch-faschistischen Ideen“ erfüllten Aristokraten bereitete. Wie Steinbachs Essay eröffnen auch die anderen Beiträge dieser Aufsatzsammlung neue Aspekte der Rezeptionsgeschichte „im Schatten Stauffenbergs“. So Thomas Kubetzkys Untersuchung über den „Mythos Rommel“, die den Feldmarschall nicht dem Widerstand zurechnen will, und Eyke Isensees Rückblick auf den „20. Juli im Spielfilm“.
Stauffenbergs Bruder wird als Rassist diffamiert
Von einem Zitat des Stauffenberg-Biographen Thomas Karlauf ausgehend, das den älteren Bruder Berthold als „Rassisten“ denunziert, weil er das Reichsgesetz vom 14. Juli 1933 über den „Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ völkerrechtlich legitimiert habe, ist der Tübinger Staats- und Völkerrechtler Wolfgang Graf Vitzhum bestrebt, für sein Porträt des „stillen Stauffenberg“ die Perspektive der Zeitgenossenschaft einzunehmen, um „vergangenen Generationen das zurückzugeben, was sie einmal besaßen, die Fülle der möglichen Zukunft, die Ungewißheit, die Freiheit, die Endlichkeit, die Widersprüchlichkeit“ (Thomas Nipperdey).
Was im speziellen Fall des Gutachtens zum Staatsbürgergesetz heißt, dessen Übereinstimmung mit dem damals geltenden Völkerrecht festzustellen, das sogar Massenausweisungen für zulässig hielt. Und was im weiteren historischen Kontext für Vitzhum heißt, heutigen UN-Enthusiasten die Normalität einer internationalen Ordnung ins Bewußtsein zu rufen, die auf dem Dogma unbegrenzter staatlicher Souveränität beruhte.
Nur von daher erschließe sich das von Ahnungslosen wie Karlauf als „nationalistisch und rassistisch“ diffamierte Rechtsverständnis Berthold Stauffenbergs ebenso wie sein juristisches Engagement für eine (friedliche) Revision des Versailler Diktats, um das Deutsche Reich wieder in den Kreis der Großmächte aufrücken zu lassen. Dieses Reich und „dies volk“ vor dem Untergang zu bewahren, sei später „ein zentraler Grund für den zu allem entschlossenen Widerstand der beiden Stauffenbergs gegen den Verräter und Vernichter ‘dieses Volkes’“ gewesen.