Potsdam, 31. Juli 1945: Um 15.45 Uhr verläßt US-Präsident Harry Truman seine Residenz in der Kaiserstraße und begibt sich ins Schlößchen Cecilienhof zur elften Sitzung der Konferenz der Weltkriegssieger USA, Großbritannien und Sowjetunion. Etwa eine Viertelstunde vor seinem Eintreffen, gegen 15.30 Uhr, explodiert knapp dreihundert Kilomter südlich in Aussig-Schönpriesen im Sudetenland ein ehemaliges Munitionsdepot der Wehrmacht.
Die Druckwellen schleudern Eisenbahnwaggons durch die Luft, Häuser gehen in Flammen auf, Schüsse fallen, das Wasser im Feuerlöschteich färbt sich rot. Es beginnt eine Hatz auf Deutsche. Auf der Brücke über die Elbe tobt der Mob. Arbeiter der Schicht AG, die nach Betriebsschluß nach Hause gehen, werden angegriffen, einige von ihnen erschlagen. Kinderwagen werden ins Wasser gestoßen. Leichen treiben elbabwärts bis ins sächsische Pirna.
Prag verbreitete die Mär von Werwolf-Angriffen
Die tschechische Begründung für die angeblich spontanen Gewaltausbrüche: Deutsche „Werwölfe“ hätten das Waffendepot in die Luft gejagt. Die Propagandalüge wird am 2. August von der Prager KP-Zeitung Rude Pravo tausendfach verbreitet: „Der hinterhältige Angriff nazistischer Brandstifter und die Berichte über das Wüten deutscher Werwölfe erhalten ihre Antwort mit dem einmütigen zornigen Aufschrei unseres ganzen Volkes: Raus mit den Deutschen aus unserem Land. Mit eiserner Hand werden wir unser Grenzgebiet säubern.“
Der Werwolf-These wird Jahre später der Aussiger Stadtarchivar Vladimir Kaiser vehement entgegentreten. Nach dem Ergebnis seiner akribischen Recherchen waren die Greueltaten eine geheimdienstlich-militärische Inszenierung der aus dem Exil zurückgekehrten Regierung in Prag.
Den Großen Drei in Potsdam sollte kurz vor dem Ende der Potsdamer Konferenz bewiesen werden, daß man mit den Deutschen nicht mehr zusammenleben könne und die „Umsiedlung“ beschleunigt werden müsse.
Kaisers Darstellung deckt sich weitgehend mit den Rechercheergebnissen des sudetendeutschen Historikers Otfried Pustejovski, „daß die an vier verschiedenen Stellen gleichzeitig begonnenen und in dieselbe Richtung zielenden Verfolgungsmaßnahmen gegen Deutsche von eingeschleusten Schlägertrupps auf Weisung hin durchgeführt wurden“. Als Organisator der Verbrechen, an denen sich auch „Revolutionsgarden“ und Soldaten beteiligen, tut sich der Stabshauptmann Bedrich Pokorny von der berüchtigten Abteilung Z des Prager Innenministeriums hervor.
„Jetzt machen wir Revolution gegen die Deutschen“
Pokorny ist ein ehemaliger Gestapo-Konfident. Bereits beim Brünner Todesmarsch Ende Juli 1945 spielte er eine teuflische Rolle, 23 Jahre später, während des Prager Frühlings 1968, wird er sich das Leben nehmen. Der deutsche Sozialdemokrat Alois Ullmann, der nach sechs Jahren im KZ Dachau nach Aussig heimgekehrt war, hat am Vormittag des 31. Juli beobachtet, wie einem aus Prag kommenden Zug etwa 300 Personen „sehr zweifelhaften Aussehens“ entstiegen, als ob „irgendwo eine Strafanstalt entleert worden ist“. Diese Meute beginnt nach der Explosion des Munitionsdepots mit der Hatz auf Deutsche. „Jetzt machen wir Revolution gegen die Deutschen“, verkündete fast zur gleichen Zeit der tschechische Militärkommandant. „Und dann begann die Schlächterei“ (Ullmann).
Wie viele Menschen dabei umgekommen sind, bleibt unklar. Deutsche Schätzungen bewegen sich zwischen 200 und 2.700, allein auf sächsischem Gebiet wurden 80 Leichen aus der Elbe geborgen, tschechische Zählungen kommen auf niedrigere Opferzahlen. 55 Jahre später, am 1. August 2000, wird Radio Prag in seiner deutschsprachigen Sendung melden: „Die Explosion des Munitionslagers am 31. Juli 1945 wurde von einem Tschechen organisiert.“
Von einer gezielten Aktion spricht auch der Historiker Martin Vesely aus Aussig. Indizien deuteten darauf hin, so Vesely, daß der Innenminister und der Verteidigungsminister dahinterstanden. Seit sich nach 1989 die Archive öffneten, gilt es als gesichert, daß die an dem Pogrom beteiligten Tschechen nicht aus der Stadt selbst stammten, sondern mit einem bestimmten Auftrag in die Stadt geschickt worden waren.
Bei einigen Kompensation für ihre NS-Kollaboration
Es wurde das Versprechen von Edvard Beneš eingelöst, „daß wir das deutsche Problem in unserer Republik für allemal liquidieren werden“. Und noch etwas anderes steht hinter den Vorgängen im Sommer 1945 in mehreren böhmischen Städten. Etliche tschechische Aktivisten, so der Schriftsteller Pavel Kohout in seinem Buch „Sternstunde der Mörder“, hätten versucht, ihre Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten vergessen zu machen, indem sie sich an den Bestialitäten nach Kriegsende beteiligten. „Kompensatorischer Deutschenhaß“ kann man das nennen, und das gilt auch für Vorkommnisse wie in Aussig.
Das politisch Makabre: Bis heute trägt die Brücke über die Elbe, auf der sich vor einem Dreivierteljahrhundert die Grausamkeiten an unschuldigen Menschen ereigneten, den Namen des berüchtigten Vertreiberpräsidenten Beneš. 2004 hat ihm das tschechische Parlament in einer Entschließung feierlich attestiert, sich um den Staat „verdient“ gemacht zu haben. Der Satz ist seitdem Teil der Rechtsordnung des Landes, er belastet das ohnehin schon komplizierte sudetendeutsch-tschechische Verhältnis zusätzlich.
Seit Sommer 2005 gibt es am Brückengeländer von Usti nad Labem, wie die Stadt an der Elbe heute heißt, eine Tafel mit der zweisprachigen Aufschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der Gewalt vom 31. Juli 1945.“ Daß es sich bei diesen Opfern ausschließlich um Deutsche gehandelt hat, wird nicht erwähnt. Gleichwohl versprach der damalige Oberbürgermeister Petr Gandalovic: „Usti will eine Stadt ohne weiße Flecken in der Geschichte sein.“ Doch ohne historisches Wissen ist die Entschlüsselung dieser Brücken-Botschaft kaum möglich.
Der in Offenbach am Main lebende sudetendeutsche Pädagoge Gerolf Fritsche hat vor Jahren in einem Brief an die Aussiger Stadtverwaltung angeregt, dem Bauwerk den Namen des ehemaligen deutschen Bürgermeisters Leopold Pölzl zu geben. Bei der feierlichen Eröffnung 1936 hatte der Sozialdemokrat Pölzl gesagt, die Brücke möge Deutsche und Tschechen miteinander verbinden. Der Kommunalpolitiker starb 1944 auf mysteriöse Weise im Stadtkrankenhaus von Aussig. Fritsches Petition ist erfolglos geblieben.
JF 32/20