Die Räumung eines besetzten Hauses in der Berliner Liebigstraße im vergangenen Oktober war begleitet von Ausschreitungen der linksextremen Szene. Doch verglichen mit dem, was sich vor 30 Jahren in der Hauptstadt abspielte, war das nur ein Geplänkel. Im November 1990 lieferten sich Autonome und Polizisten drei Tage lang schwere Auseinandersetzungen um insgesamt 13 besetzte Häuser.
Seit dem April hatten Linke die Gebäude in der Mainzer Straße im Ostteil Berlins in Beschlag genommen. In den Immobilien richteten sich unterschiedliche Gruppen ein. So entstand unter anderem im sogenannten Tuntenhaus, in dem Homosexuelle lebten, eine Schwulenbar. In einigen der Häuser bauten die Besetzer Falltüren und spitze Metallstangen ein. Später begründeten sie dies als angebliche Schutzmaßnahmen gegen Angriffe von Neonazis.
Der damalige Innensenator Erich Pätzold (SPD) weitete im Herbst die „Berliner Linie“, wonach die Zahl besetzter Häuser in der Hauptstadt reduziert werden sollte, auch auf den Ostteil aus. Am 12. November räumte die Polizei bereits mehrere Gebäude in der Pfarr- und Cotheniusstraße. Dabei kam es zu ersten Scharmützeln mit den Besetzern.
Es regnete Steine, Brandsätze und Gehwegplatten
Am gleichen Tag sollten auch in der Mainzer Straße wieder klare Verhältnisse geschaffen werden. Gegen Nachmittag rückten die Sicherheitskräfte vor. An den entsprechenden Gebäuden zerschossen Wasserwerfer der Polizei gezielt die Fensterscheiben, und Beamte warfen Tränengasgranaten in die Wohnungen. Ein heute undenkbares Vorgehen, wo jede resolute Festnahme im Internet für einen Aufschrei sorgt.
Allerdings ließen sich die Autonomen aus der Mainzer Straße davon nicht beeindrucken und leisteten heftigen Widerstand. Von den Dächern herab bewarfen sie die Polizisten mit Steinen, Molotowcocktails, Gehwegplatten, Toilettenbecken und Gullideckeln. Überrascht von der Gewalt, zogen sich die Einsatzkräfte zunächst zurück.
Einer der Hausbesetzter schilderte für ein Geschichtsprojekt der Freien Universität Berlin seine Wahrnehmung dieser Tage. „Auf mich wirkten die Bullen relativ konzeptlos – vielleicht haben die auch nicht mit dieser Heftigkeit der Gegenwehr gerechnet. Sie waren irgendwie auch völlig überfordert und planlos.“
Autonome stahlen Bagger und zündeten Straßenbahn an
Die Angriffe auf die Polizei konzentrierten sich demnach auch nicht nur auf die Mainzer Straße. So attackierten immer wieder Gruppen von 20 bis 30 Hausbesetzern und ihrer Unterstützer die Beamten in den Nebenstraßen. „Die Bullen, die kamen da (die besetzten Häuser – Anm.) eigentlich nicht ran“, kommentierte der Zeitzeuge die Situation.
Angespornt durch diesen unerwarteten Erfolg, begannen die linksextremen Hausbesetzer mit einem gestohlenen Bagger, das Pflaster der Straße aufzureißen und Barrikaden zu errichten. Eine Straßenbahn wurde gestoppt und ebenfalls zur Blockade verwendet. In der Nacht ging sie in Flammen auf.
Zur Unterstützung fanden sich weitere Sympathisanten ein, darunter auch Grünen-Politiker. Mit einer Menschenkette behinderten sie einen erneuten Versuch der Polizei, wieder in die Straße vorzurücken.
Hausbesetzer klagten über Mißhandlungen
Angesichts der für die Regierung blamablen Situation entschloß sich Pätzold am 13. November, die Straße am Folgetag mit einem massiven Polizeiaufgebot zu räumen. Dazu wurden zehn Wasserwerfer, Hubschrauber und insgesamt 3.000 Polizisten zusammengezogen. Denen standen rund 500 Autonome gegenüber, die die Hubschrauber zeitweise durch den Beschuß mit Leuchtkugeln zum Abdrehen zwangen.
Gegen sechs Uhr rückten die Einsatzkräfte erneut vor. Als erstes besetzten SEK-Einheiten die Dächer, um zu verhindern, daß von dort erneut ein Geschoßhagel auf die Kollegen am Boden niederging. So gesichert, konnten die Polizisten in einer stundenlangen Operation Haus für Haus erobern, wobei 70 Beamte verletzt wurden. 417 Autonome wurden verhaftet.
Dabei ging die Polizei nicht zimperlich vor. So beklagten sich etliche Hausbesetzer später, sie seien mißhandelt worden. Ein Hausbesetzer erinnerte sich Jahre später, daß die Festgenommenen „mit Tritten auf den Kopf zu Boden gezwungen“ worden seien. „Ganz zu schweigen von den Knochenbrüchen und schweren Gehirnerschütterungen, Platzwunden und Prellungen.“ Selbstkritische Töne, daß die Angriffe auf die Polizisten deren Tod billigend in Kauf nahmen, fehlten.
Räumung führte zum Koalitionsbruch
Auf Straßenschlacht und Häuserkämpf folgte das politische Beben. Die Senatorinnen Anne Klein (parteilos), Michaele Schreyer (Grüne) und Sybille Volkholz (AL) traten zurück. Am 16. November verkündete die spätere Landwirtschaftsministerin Renate Künast als Fraktionsvorsitzende der AL den Bruch der Koalition. Begründet wurde dieser Schritt damit, daß die AL nicht in die Entscheidung Pätzolds zur Räumung einbezogen worden sei. Der Sozialdemokrat bestritt das.
In den folgenden Jahren schlossen die Hausbesetzer nach und nach Verträge mit den Eigentümern und verabschiedeten sich von militanten Plänen. Doch wie die Auseinandersetzungen um die Liebig- und Rigaer Straße der vergangenen Jahre zeigen, scheinen die Zeiten der Verhandlungslösungen vorbei zu sein.