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Leipziger Montagsdemonstration: Eine Frage der Deutungshoheit

Leipziger Montagsdemonstration: Eine Frage der Deutungshoheit

Leipziger Montagsdemonstration: Eine Frage der Deutungshoheit

Bürgerrechtler und Bürger nehmen an einer Montagsdemonstration am 4. September 1989 in Leipzig teil.
Bürgerrechtler und Bürger nehmen an einer Montagsdemonstration am 4. September 1989 in Leipzig teil.
Montagsdemonstration am 4. September 1989 in Leipzig Foto: dpa – Bildarchiv
Leipziger Montagsdemonstration
 

Eine Frage der Deutungshoheit

Vor 30 Jahren versammelten sich Hunderte DDR-Bürger in Leipzig und forderten ein „offenes Land mit freien Menschen“. Der 4. September 1989 gilt heute als Auftakt zu den legendären Leipziger Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten. Ganz korrekt ist das nicht. Denn es waren zuvor schon die Ausreisewilligen, die dem Staat tröpfchenweise den Lebenssaft entzogen. Von Thorsten Hinz.
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Am Donnerstag, den  31. August 1989, versammelte sich im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in Ost-Berlin eine hochrangige Runde zur Dienstbesprechung. Themen gab es mehr als genug: Die Fluchtwelle und die allgemeine Unruhe im Land, die längst auch SED-Mitglieder erfaßt hatte; die „Medienhetze“ des Klassenfeindes; die „Wühlarbeit“ der Oppositionsgruppen, die im Stasi-Jargon „feindlich-negative Kräfte“ hießen. Irgendwann ließ Minister Erich Mielke seine tiefsten Befürchtungen und sein historisches Trauma erkennen: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“ Seine Untergebenen versuchten, ihn zu beruhigten, doch sehr überzeugend klangen sie nicht.

Zur Runde gehörte Generalleutnant Manfred Hummitzsch, Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig. „Absolute Priorität“ in seinem Wirkungskreis habe das für kommenden Montag, den 4. September, geplante Friedensgebet in der Leipziger Nikolai-Kirche. Nach achtwöchiger Sommerpause sei mit einer „außerordentlich hohen Beteiligung“ zu rechnen. Die Kirchenleute hätten es abgelehnt, die Veranstaltung abzusagen oder wenigstens zu verlegen mit der Begründung, dazu seien sie gar nicht in der Lage. Der Stasi-General räumte ein, daß die Friedensgebete in der Tat längst zum Selbstläufer geworden seien.

Begonnen hatten sie 1981 anläßlich der Debatte um die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa. Während die DDR-Propaganda sich ausschließlich auf die Nato-Raketen kaprizierte, wurden hier nicht nur die Rüstung des Warschauer Pakts thematisiert und kritisiert, sondern auch ein Zusammenhang zwischen äußerem und innerem Frieden hergestellt. Das war der Anknüpfungspunkt für Kritik am SED-Regime und machte die Gebete auch für sogenannte „Ausreisewillige“ interessant, die oft schon seit Jahren darauf warteten, die DDR verlassen zu dürfen.

Leipzig war kein Zufall

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Im Frühjahr 1989 wurde der Zulauf immer größer. An den Montagnachmittagen verbreitete sich auf dem Platz und in den Gassen um die Nikolai-Kirche spürbare Nervosität. Polizeiwagen fuhren auf, Uniformierte und betont unauffällig dreinschauende Zivilisten bezogen Stellung.

Es war kein Zufall, daß das allgemeine Mißvergnügen im Land sich ausgerechnet in Leipzig so exponiert entäußerte. Die Probleme ballten sich hier auf engem Raum. Die einstmals stolze und reiche, im Krieg schwer verwundete Handelsstadt fühlte sich dem Verfall preisgegeben. Die Umwelt- und Luftverschmutzung war besonders spürbar, die innerstädtische Bebauung stark verdichtet, es gab wenig Grün, der Braunkohletagebau arbeitete sich immer dichter an die Stadt heran. Was in Sachsen erwirtschaftet wurde, kam zuerst Berlin (Ost) zugute, das als Schaufenster der DDR zum Westen absoluten Vorrang hatte. Das Neue Gewandhaus, das 1981 eingeweiht wurde und wo Kurt Masur dirigierte, war nicht mehr als ein Trostpflaster.

Die Befürchtung von Stasi-General Hummitsch sollte sich am 4. September erfüllen. Die Teilnehmer des Friedensgebets – die Zahlenangaben schwanken zwischen 600 und 1.200 – verließen den Kirchenraum und füllten lautstark den Vorplatz: Eine regimekritische – für die Stasi: staatsfeindliche – Kundgebung unter freiem Himmel. Transparente wurde entrollt, von denen eines lautete: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“.

„Reisefreiheit statt Behördenwillkür“

Nach wenigen Sekunden wurde es von agilen Stasi-Jungs in Zivil heruntergerissen, doch die vorab informierten Westmedien hatten die Bilder bereits im Kasten und ließen sie wenig später über die Bildschirme flimmern. Hatten die Sprechchöre früher gelautet: „Wir wollen raus!“, überwog nun: „Wir bleiben hier.“ Was kein Wunder war, denn wer raus wollte, war zu dem Zeitpunkt zumeist schon in Ungarn, in Prag oder auch in Warschau. Von jetzt ab ging es den Demonstranten primär um politische Veränderungen.

Der 4. September gilt heute als Auftakt zu den legendären Leipziger Montagsdemonstrationen. Ganz korrekt ist das nicht. Die erste Demonstration fand bereits am 13. März 1989 zur Zeit der Leipziger Frühjahrsmesse statt. Damals formierten sich, wie die Stasi penibel protokollierte, von den 650 Teilnehmern des Friedensgebets 300 zu einem Demonstrationszug. Es waren vor allem Antragsteller auf ständige Ausreise, die die Absicht hatten, sich durch die Innenstadt in Richtung Thomaskirche zu begeben.

Um den Zug zu stoppen, setzte die Staatsmacht 850 Angehörige der Sicherheitsorgane und sogenannte „gesellschaftliche Kräfte“ ein, vergleichbar der Antifa heute. Nach immerhin 300 zurückgelegten Metern wurde der Zug auf dem Markt zum Halt gebracht. Die Protokollanten vermerkten Rufe wie „Stasi raus“, „Stasischweine“ sowie „Freiheit – Menschenrechte“. Ein Plakat forderte „Reisefreiheit statt Behördenwillkür“.

Die Frage der Datierung – März oder September – ist natürlich auch eine Frage der Deutungshoheit. Was war letztlich entscheidend für das Ende der DDR: Die radikale oder die liberale Form des Widerspruchs? Die Unlust derer, die mit ihr abgeschlossen hatten und ihr durch den Weggang tröpfchenweise den Lebenssaft entzogen, oder der politische Veränderungswille der Bürgerrechtler, die an ihre Reformfähigkeit glaubten?

Montagsdemonstration am 4. September 1989 in Leipzig Foto: dpa – Bildarchiv
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