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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Wollt ihr den totalen Krieg?“: Ausrufungszeichen mit blanker Verzweiflung

„Wollt ihr den totalen Krieg?“: Ausrufungszeichen mit blanker Verzweiflung

„Wollt ihr den totalen Krieg?“: Ausrufungszeichen mit blanker Verzweiflung

Joseph Goebbels
Joseph Goebbels
Progandaminister Joseph Goebbels Foto: picture alliance/AP Photo
„Wollt ihr den totalen Krieg?“
 

Ausrufungszeichen mit blanker Verzweiflung

Vor 75 Jahren hielt Joseph Goebbels seine berüchtigte Sportpalastrede. Ob sie bei allem Gebrüll und Beifall wenigstens unter Propagandaaspekten Qualität besaß, darüber ist viel Kontroverses geschrieben worden. Die Tendenz geht zu einem Nein. Gekaufter Beifall ist keiner.
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Unwort, Umfrage, Alternativ

Wir sind hier nur Bergarbeiter. Fliege weiter nach Berlin, dort haben alle ‘Ja!’ geschrien.“ Diese Reime sollen in den Jahren 1943 und 1944 des öfteren in Deutschlands westlichen Regionen kursiert und aus dem Luftschutzkeller heraus den alliierten Bomberschwärmen zugerufen worden sein, die inzwischen fast Nacht für Nacht über das Land flogen und unterschiedslos militärische oder zivile Ziele bombardierten. Der Reim kann eine Legende sein; der nachhaltige Eindruck, den das Berliner „Ja!“ vom 18. Februar 1943 hinterlassen hat, ist es ganz sicher nicht.

Wollt ihr den totalen Krieg?

Es wurde während Joseph Goebbels spektakulärer Rede im Sportpalast der Stadt mehrfach gerufen, als laute Antwort von Tausenden handverlesener Gäste auf die vom Minister gestellten zehn Fragen, von denen die bekannteste lautete: „Wollt ihr den totalen Krieg?“

Von den Verhältnissen eines totalen Krieges war man in Deutschland zu dieser Zeit im Inneren immer noch erstaunlich weit entfernt. Das Regime fürchtete innere Unruhen, wollte keinen neuen November 1918 und hatte bis dahin viel getan, um neben politischer Kontrolle und Manipulation vor allem für ausreichende Versorgung und Ablenkung des Volkes zu sorgen. So lief denn gerade in der Hauptstadt der Unterhaltungsbetrieb beinah in gewohnter Weise weiter, und wer es sich leisten konnte, durfte weiterhin gepflegten Restaurantbesuchen nachgehen. Damit sollte es nun ein Ende haben.

Goebbels statt Hitler

Joseph Goebbels wurde schon zum zweitenmal ausgeschickt, um diese unangenehme Wahrheit öffentlich zu verkünden. Bereits die Rede zum zehnten Jahrestag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hatte im Januar 1943 nicht wie sonst üblich der Diktator selbst, sondern sein Propagandaminister vorgetragen.

Die Landung der US-Amerikaner in Nordafrika, die Niederlagenkette des Afrikakorps gegen die britischen Streitkräfte, schließlich die offene Forderung der Westmächte nach bedingungsloser Kapitulation und dann als negative Krönung die Katastrophe von Stalingrad – es hatte dem Diktator angesichts dieser Ereignisse vorläufig die Sprache verschlagen.

Wochenlang feilte Goebbels an seinem Berliner Vortrag und fand ihn selbst in gewohnter Weise schon Tage vorher großartig, wie aus einem Tagebucheintrag hervorgeht. Ein ausgesuchtes und NS-affines Publikum stellte den Rahmen und sollte, wie in der Rede mehrfach behauptet, ein repräsentativer Querschnitt, also das deutsche Volk selbst sein. Somit konnte also nichts schiefgehen, jedenfalls was die unmittelbare Inszenierung betraf.

Die geplanten Jubelstürme sollten die inhaltlichen Widersprüche übertönen, wie sie sich zwischen der Beschreibung der für jedermann erkennbar schlechten Lage auftaten, dem dramatischen Hilfsappell angesichts dieser Situation, dem Hinweis, eine Niederlage bedeute den Tod und der wiederholten Behauptung, diese Niederlage sei eigentlich ausgeschlossen. Goebbels merkte wohl selbst, daß dies nicht möglich war. Er warnte das Ausland davor, die Rede als Friedensangebot zu verstehen.

Rede fürs ungläubige Volk

Die groteske Behauptung über einen erfolgreich verlaufenden U-Boot-Krieg im Atlantik mußte das bei den Alliierten sowieso reichlich vorhandene Selbstbewußtsein noch weiter steigern. Dort wußte man um die wahre Lage. Der deutsche U-Boot-Krieg war nicht nur erfolglos, sondern inzwischen von dramatischen eigenen Verlusten gekennzeichnet.

Ob die Berliner Sportpalastrede bei allem Gebrüll und Beifall wenigstens unter Propagandaaspekten Qualität besaß, darüber ist viel Kontroverses geschrieben worden. Die Tendenz geht zu einem Nein. Gekaufter Beifall ist keiner. Offenkundige Lügen wie die vom erfolgreichen U-Boot-Krieg sind auch nicht Teil erfolgreicher „Öffentlichkeitsarbeit“. Das Ausland konnte aus der Rede eigentlich nur deutsche Verzweiflung herauslesen, sowohl was den Inhalt als auch was die völlig überzogene Präsentation betraf. So richtete sich die Frage nach der Resonanz der Rede vorwiegend nach innen.

Die Deutschen entnahmen der Rede offenbar mehrheitlich, daß das Regime zwar gefährlich und noch zu großen Inszenierungen imstande, aber in der Sache ratlos war. Achselzucken und Sarkasmus scheinen viele Reaktionen begleitet zu haben. Für den Historiker ist das quellenmäßig schwer zu ermitteln, denn öffentliche Reaktionen waren risikoreich und kaum möglich, Briefe wurden zensiert, kritische Tagebücher konnten im Verhaftungsfall zur Todesursache werden. Es gibt sie also so gut wie nicht, und nur Randbereiche liefern Indizien.

Briten nutzten Gelegenheit

Findige Sozialwissenschaftler haben ermittelt, daß der Anteil des auf den Standesämtern bis dahin so beliebten Geburtsnamens „Adolf“ seit dem März 1943 praktisch auf null sank. Im übrigen taten die Deutschen weiter ihre Pflicht, zunehmend eingekeilt zwischen den Kriegsgegnern und einem Regime, das die entzogenen Wohltaten im Vergnügungs- und Nahrungsmittelbereich durch stärkere Überwachung, größere Willkür und härtere Urteile zu ersetzen begann. Seine Gegner fanden in der Ausrufung des totalen Krieges nur einen weiteren Grund, ihre militärische Überlegenheit zunehmend hemmungslos auszuspielen.

Die eingangs zitierten Verse waren ein Symbol dafür, wie Goebbels einmal mehr versehentlich die Kriegsführung des Gegners legitimiert hatte. Im Jahr 1940 war das schon einmal geschehen, als er den mißlungenen deutschen Luftangriff auf die englische Stadt Coventry in eine Drohgebärde ummünzen wollte. Man werde noch viel mehr englische Städte „conventrieren“. Tatsächlich hatte die Luftwaffe in Coventry industrielle Ziele angreifen wollen und dabei beachtliche Teile der Stadt zerstört. Man würde das heute einen „Kollateralschaden“ nennen.

Goebbels machte daraus zu rhetorischen Zwecken für das, was er unter Propaganda verstand, eine Absicht und ein Muster. Damit legitimierte er im Nebeneffekt allerdings vor der Weltöffentlichkeit eine entsprechende britische Gegenreaktion. Und die Briten hatten nicht nur die passenden Flugzeuge, sondern auch das strategische Konzept und die in langen Jahren wohlerwogene Absicht für einen Luftkrieg gegen Städte nebst deren Einwohnern. Nur der passende politische Vorwand zur Umsetzung hatte bis dahin noch gefehlt.

Nun tat er das nicht mehr und nach der Berliner Sportpalastrede noch viel weniger. Der britische Luftkrieg konnte nun besser als provoziert dargestellt werden. So flogen sie denn verstärkt weiter, die „Tommies“.

JF 8/18

Progandaminister Joseph Goebbels Foto: picture alliance/AP Photo
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