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Zahlenpoker im Windschatten der Wissenschaft

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Ist die Geschichtswissenschaft einer emotional vermittelten Gedenkkultur im Ringen um die Deutungshoheit zunehmend unterlegen? Und ist es heute überhaupt noch möglich, seriöse historische Forschung unabhängig vom politischen Einfluß zu betreiben? Diese beiden Fragen standen im Mittelpunkt des 47. Deutschen Historikertages, der vom 30. September bis 3. Oktober in Dresden unter dem Motto „Ungleichheiten“ stattfand. Bereits in seiner Eröffnungsrede griff Bundespräsident Horst Köhler das Verhältnis zwischen Geschichte und Politik auf. Köhler hob dabei die besondere Bedeutung der Geschichtswissenschaft für gesellschaftliche Integration und Identifikation hervor, die er zugleich als wichtige politische Ziele benannte. Allerdings betonte Köhler auch, daß die Forschung auf keinen Fall zur „Magd der Politik“ erniedrigt werden dürfe. Die Grundvoraussetzung zu solider Arbeit sei die „wissenschaftliche Objektivität“. Leider zeige sich jedoch immer deutlicher, so der französische Historiker Etienne François bei einer Veranstaltung am Mittwoch, daß „das Gedächtnis letztlich stärker als die Geschichte“ sei. So sei die Macht der „Gedächtnisunternehmer“ gewachsen, während die historische Wissenschaft ihr früheres Deutungsmonopol immer mehr einbüße. Denn die nüchterne, objektiv abwägende Betrachtungsweise sei dem gezielten Spiel mit Emotionen unterlegen. Schwerpunkt in Fachdiskussionen sei daher, wie dieser zentralen Herausforderung am besten zu begegnen sei. Konkret verwies François auf die jüngere Diskussion um geschichtliche „Erinnerungsorte“. Diese seien heute längst nicht mehr nur Orte, an denen sich tatsächlich historisch Außergewöhnliches ereignet habe. Zur Etablierung eines Erinnerungsortes sei wichtig, daß ein breites Publikum diesen als bedeutsam ansehe oder an seine Bedeutung glaube. Je stärker ein Ort gesellschaftlich polarisiere bzw. je häufiger er in internationalen Debatten genannt werde, desto höher seien die Chancen, daß er sich zum „Gedenkort“ entwickele, so François. Der polnische Historiker Robert Traba bezweifelte hingegen, daß die von François geforderte Abgrenzung zwischen historischer Forschung und Politik überhaupt „wünschenswert“ sei. Jeder Forscher agiere zwangsläufig als „Teil der Geschichtspolitik“, so Traba, zumal Historiker „nicht die Geschichte wieder herstellen, sondern konstruieren“ würden, um sie bewerten zu können. Zudem wünschten sich viele Forscher sogar, eine aktive Rolle in der Politik zu spielen. Als Beleg für diese Einstufung hätte Traba wohl auch die Vorstellung des vorläufigen Abschlußberichts der Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen der Luftangriffe auf die Stadt Dresden vom 13. und 14. Februar 1945 heranziehen können, der begleitend zum Historikertag präsentiert wurde. Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Veranstaltungen wurde dort „Mitgliedern rechtsextremer Organisationen“ und „Personen, die bereits in der Vergangenheit durch rassistische oder nationalistische Äußerungen in Erscheinung getreten sind“, die Anwesenheit untersagt. „Bei Zuwiderhandlung“ werde sofort vom Hausrecht Gebrauch gemacht, drohten Anschläge im überfüllten Seminarraum. 2004 hatte der damalige Dresdner Oberbürgermeister Ingo Roßberg eine unabhängige Kommission beauftragt, wegen der stark differierenden Angaben die Opferzahl des anglo-amerikanischen Bombenangriffs zu untersuchen. Schon das Ergebnis des Zwischenberichtes, das die aus Historikern, Archivaren, Archäologen, Ingenieuren, Museumsspezialisten, Verwaltungsbeamten sowie Vertretern der Bürgerschaft zusammengesetzte Kommission 2006 der Öffentlichkeit bekanntgab, hatte Anlaß zu zahlreichen Kontroversen gegeben. Damals war die Gesamtzahl der getöteten Opfer der Luftangriffe mit etwa 20.000 bis 25.000 angegeben worden. Dieses Ergebnis wurde jetzt bestätigt: Nur etwa 18.000 Tote könne die Kommission anhand der ihr vorliegenden Unterlagen und Dokumenten konkret benennen, so deren Vorsitzender, der Potsdamer Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller. Für über weitere 5.000 Opfer, deren Überreste zusätzlich zu den namentlich bekannten Toten auf dem Dresdner Heidefriedhof beigesetzt werden sollen, existiere kein konkreter Beleg. Hinzu komme eine Dunkelziffer von etwa 2.000 möglichen Opfern, so daß insgesamt von einer Zahl zwischen 20.000 und maximal 25.000 Toten der Luftangriffe vom 13. und 14. Februar 1945 auszugehen sei, so Müller.  Diese Angaben würden sich weitestgehend mit den amtlichen Zahlen decken, die am 14. März 1945, etwa einen Monat nach den Angriffen und nach der Bergung und Beerdigung der meisten Toten, sowohl von der Wehrmacht als auch von der SS aufgestellt wurden. Allerdings waren diese Angaben streng vertraulich und wurden in der Presse nicht verbreitet. Verbreitet wurde dagegen die Behauptung des Svenska Dagbladet vom 27. Februar 1945 von etwa 200.000 Toten, obwohl diese — so Müller — auf reinen Schätzungen beruhte. Auffällig sei, daß das NS-Regime selbst keine derartigen Angaben verbreitet, sondern gezielt ausländische Korrespondenten als Meinung einer „unabhängigen Presse“ zitiert habe. Dabei hätte kein ausländischer Journalist 1945 die Möglichkeit gehabt, sich einen genauen Überblick vor Ort zu verschaffen. Auch nach dem Krieg habe es nur einen einzigen Versuch gegeben, die Zahl der Dresdner Bombenopfer möglichst genau und ohne bloße Schätzungen zu bestimmen. Als der damalige Oberbürgermeister Walter Weidauer in der ersten Januarwoche 1946 den Wiederaufbauplan verkündete, habe er in enger Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht eine Untersuchung der Angaben über die Dresdner Luftkriegsopfer angeordnet, so Müller. Nach ihrem Abschluß wurde fortan in offiziösen Darstellungen der Stadt wie auch der SED-Führung die Gesamtzahl der Toten immer mit 35.000 angegeben. Allerdings sei diese Zahl leider nicht mehr nachprüfbar, da ein größerer Teil der damaligen Ermittlungsakten verschollen sei. Somit habe die jetzige Kommission fast sechzig Jahren nach den Ereignissen praktisch wieder vom Punkt Null beginnen müssen, so Müller. Müller erklärte mehrfach, daß das Ziel der Untersuchungen keineswegs darin gelegen habe, „etwaigen politischen Vorgaben zu entsprechen“ oder gar „bewußt die Zahlen herunterzurechnen“. Die zentrale Aussage, daß die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 die größte Katastrophe für die Elbe-Stadt gewesen sei, bleibe von dem aktuellen Forschungsergebnis unberührt. Auch wer die Auffassung vertrete, daß es sich um ein alliiertes Verbrechen größten Ausmaßes gegen die Zivilbevölkerung handelte, brauche seine Meinung nicht zu revidieren. Zudem bestätigte die Untersuchung, daß der militärische Nutzen des Angriffs äußerst gering gewesen sei, da hauptsächlich Gebiete mit rein ziviler Bebauung dem Erdboden gleichgemacht wurden. Insgesamt seien von etwa 17.000 im Dresdner Einzugsgebiet stationierten Wehrmachtsangehörigen lediglich einhundert getötet worden, so Müller. Die Kommission erwartet, daß auch nach der Veröffentlichung des kompletten Berichts, der im Frühjahr 2009 schriftlich vorliegen soll, kontroverse Diskussionen geführt werden. Dies sei Bestandteil jeder wissenschaftlichen Arbeit, so Müller. Allerdings sei mit der detaillierten Untersuchung „über die reinen Zahlen hinaus ein Fundament gesetzt“ worden, welches letztlich gerade den persönlich Betroffenen und den Angehörigen der Toten eine weitere Grundlage für ein würdiges Gedenken biete. Dies geschehe in erster Linie über ein Zeitzeugenprojekt, für das 450 Augenzeugen befragt wurden, deren Aussagen ebenfalls publiziert werden sollen. Auch der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) sorgte für Aufregung, als er während einer Podiumsdiskussion zur friedlichen Revolution in der DDR behauptete, die Niederschlagung des chinesischen Studentenaufstandes von 1989 wie auch die geplante, aber letztlich nicht vollzogene gewaltsame Auflösung der Leipziger Montagsdemonstrationen seien zwar „menschlich tragisch“, jedoch „folgerichtig“ und „vom System verständlich“ gewesen. Ehemalige DDR-Bürgerrechtler wie Rainer Eppelmann und Ulrike Poppe distanzierten sich deutlich von dieser Einschätzung. Nicht zuletzt spielte das Thema Politik auch in mehreren Veranstaltungen zur neuesten polnischen und tschechischen Geschichtsforschung eine Rolle. Dies zeigte sich etwa in der Diskussion um die Verbindung der böhmischen Länder mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, aber auch zur österreichischen Monarchie. Tschechische Historiker stellten heraus, daß heute der Schwerpunkt ihrer historischen Forschung eher auf der Herausarbeitung von Unterschieden gesehen wird. So betonte etwa der Pardubitzer Petr Vorel die große Bedeutung eigenständiger Traditionen für die tschechische Öffentlichkeit. Anders als die Mehrzahl der deutschen Fachkollegen: Deren Akzent sei weit stärker auf eine gemeinsame europäische Vergangenheit gerichtet.     Foto: Logo des Historikertages mit Bildern des zerstörten Dresden, Wehrmachtssoldaten in Rußland und deutsche Soldaten am Ende des Ersten Weltkriegs: Die Forschung als „Magd der Politik“

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