Die Würdigungen zum siebzigsten Geburtstag des Historikers Michael Stürmer werden bestenfalls höflich sein, mehr aber nicht. Die Zeiten sind vorbei, daß er interessierte, sogar seine Feinde von ehedem haben ihren Frieden mit ihm gemacht oder schlicht vergessen, warum sie sich jemals mit ihm stritten. Obwohl Stürmer neben Thomas Nipperdey die umfangreichste Darstellung des Bismarckreiches geschrieben hat — sie erschien 1983 in Siedlers Reihe „Die Deutschen und ihre Nation“ — wird man auch nicht behaupten können, daß seine Leistung für die Historiographie prägend wirkt. Allerdings galt das Buch bei Veröffentlichung als Wegmarke in der Entwicklung der westdeutschen Geschichtswissenschaft, denn die Mehrheit der Fachvertreter wie auch die gebildete Öffentlichkeit lasen den Band als Antwort auf Hans-Ulrich Wehlers kurz zuvor publiziertes Werk über die Zeit zwischen 1871 und 1918. Tatsächlich war der Unterschied zwischen dem, was Wehler dem Leser an „historischer Sozialwissenschaft“ zumutete, und der eher traditionellen Präsentation bei Stürmer erheblich. Wer daraus allerdings ableitete, hier mache sich eine „neokonservative“ Geschichtsschreibung gegenüber „progressiven“ Ansätzen geltend, verfehlte den Ansatz Stürmers. Die Prägungen, die er durch konservative Lehrer in Deutschland (Hans Rothfels, Werner Conze) und England (Michael Oakeshott) erhalten hatte, machten sich jedenfalls nicht erkennbar geltend, und im Grunde war er wie Wehler der Meinung, daß das Kaiserreich auch ohne die militärische Niederlage im Weltkrieg an seinen inneren Gegensätzen zugrunde gegangen wäre. Allerdings konnte man gewisse Verschiebungen bemerken gegenüber der Linie des Sammelbandes „Das kaiserliche Deutschland“, den der ehrgeizige, gerade zweiunddreißigjährige Assistent Stürmer herausgegeben hatte, und der auch einen Beitrag Wehlers umfaßte. Da waren noch ganz brav die Vorgaben eingehalten und der neue Jargon benutzt worden, in dem auch Stürmer ganz geläufig von Bismarcks „Cäsarismus“ oder den Problemen „sekundärer Integration“ angesichts der „strukturellen Dauerkrise“ des Reiches sprach. Während Stürmer die Behauptung einer solchen Belastung auch in dem Band „Das ruhelose Reich“ weiter aufrechterhielt, betrafen die Korrekturen vor allem die Rolle des deutschen Bürgertums, das jetzt in einem freundlicheren Licht erschien. Das machte Stürmer, der seit 1973 einen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen innehatte, vielen seiner Zunftgenossen suspekt, und wie zur Bestätigung des Verdachts trat er in den achtziger Jahren — parallel zu Kohls „Wende“ — als Kanzlerberater und Dauerkommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf. Wenn man ihn deshalb im „Historikerstreit“ der „Viererbande“ — Ernst Nolte, Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber und eben Stürmer — zuschlug, handelte es sich aber um ein Mißverständnis: Stürmer hatte nie die Absicht, in dem Konflikt eindeutig Position zu beziehen oder gar Noltes Thesen zu verteidigen. Der Wahrheit näher kam Habermas, wenn er Stürmer als „Nato-Historiker“ bezeichnete. Die Invektive stand im Zusammenhang nicht nur mit Stürmers Parteinahme für Kohl, sondern auch im Kontext seiner Bemühungen, die Westbindung der Bundesrepublik angesichts von Friedensbewegung, Äquidistanzdebatten und einer irrlichternden Suche nach „deutscher Identität“, als historisch notwendig zu beweisen. In ermüdender Weise kam Stürmer wieder und wieder auf die Gefahren der Mittellage zurück, von der uns Teilung und Integration nur vorläufig erlöst hatten: „Die Pax Americana wird schwächer. Der Gründungskonsens der Bundesrepublik zerfällt im Innern. Auch die parlamentarische Demokratie zeigt sich anfällig für Spaltungen zwischen Legalität und Legitimität, Versuchungen eines deutschen Sonderwegs werden wieder wach. ( ) Werden die Deutschen von ihrer Geschichte eingeholt?“ Konsequent erscheint insofern, wenn Stürmer noch angesichts der Krise der DDR und einer denkbar werdenden Wiedervereinigung vor den Versuchungen der „Mitte“ warnte. Da war sein Einfluß allerdings schon zurückgegangen, das Ohr des „Kanzlers der Einheit“ hatte er jedenfalls nicht mehr, und auch die FAZ war seiner überdrüssig. An Fortschritten des Karriereverlaufs mangelte es aber nicht: Zwischen 1988 und 1998 übernahm Stürmer die Leitung des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit (Stiftung Wissenschaft und Politik) in Ebenhausen, und im September 1989 erhielt er als Chefkorrespondent der Welt zwar keine der Frankfurter ebenbürtige Plattform, aber immerhin. Dieser Konzentration auf die journalistische Tätigkeit entspricht, daß Stürmer im Grunde nach „Das ruhelose Reich“ und einem kurzen Ausflug in die Gefilde der Kunstgeschichte keine genuin historischen Arbeiten mehr veröffentlicht hat. Seine Publikationsliste ist trotzdem lang, er gehört zu den Omnipräsenten bei allen möglichen Kongressen zu außenpolitischen und Sicherheitsfragen, aber von seinen Büchern wird kaum etwas Bestand haben, ein Schicksal, das sie mit den meisten der tonangebenden deutschen Historiker der letzten drei Jahrzehnte gemeinsam haben. Michael Stürmer, Foto von 1991: Westbindung der Bundesrepublik als historisch notwendig beweisen