A m Sonntag, dem 4. März 1945, krachten frühmorgens die ersten Granaten im pommerschen Ostseebad Kolberg. Schon seit Tagen hatten zahllose Wehrmachteinheiten und Trecks hier Schutz gesucht. Durch das überraschende Auftreten sowjetischer Panzer war der Abtransport zu Lande unmöglich geworden. Nun kam nur noch die Flucht mit dem Schiff in Frage. Nachdem sich die Kriegsmarine bei der Evakuierung der Bevölkerung beteiligte, herrschte im Hafen Hochbetrieb. Meine Mutter und wir vier Jungs im Alter von zwei bis dreizehn Jahren, versuchten zuerst mit der Bahn zu entkommen. In einem stehenden Güterzug brachten wir die ganze Nacht zu, da es am Montagmorgen losgehen sollte. Doch der Zug kam nicht weit. Wir hörten eine wilde Schießerei und mußten im Zug bleiben. Die Rote Armee stand in Treptow und Belgard. Spätabends wurden wir aufgefordert, westwärts zu laufen. So quälten wir uns zum Bahnhof zurück, wo alles verschlossen war. Nach zwei Stunden entschlossen wir uns, zurück in die Augustenstraße zu gehen und um Nachtquartier zu bitten. Am 6. März versuchten wir vergeblich, auf ein Schiff zu kommen. So verbrachten wir die Nacht im Luftschutzkeller und hörten Flugzeuge über der Stadt und Beschuß. Mittwoch, den 7. März, unternahmen wir einen neuen Versuch, auf ein Schiff zu gelangen. Weil Jochen (2 Jahre) und Uli (6 Jahre) dabei so gedrückt wurden und weinten, mußten wir zurückbleiben. Ein Nachbar gab meiner Mutter den Rat, zur Kreisleitung in der Seestraße zu gehen und über die Zustände im Hafen zu berichten. Dort bekam sie dann einen Ausweis, um mit vier Kindern bevorzugt behandelt zu werden. Am 8. März war jedoch der Hafen gesperrt. Die flüchtenden Kolberger wurden in Gruppen aufgeteilt. Wir kamen schließlich auf einen Minenräumer. Bis Mitternacht lagen wir auf Reede, um die Geleitzugzusammenstellung abzuwarten. Artillerie schoß auf den Hafen. Es gab Panik, Kinder schrien furchtbar vor Angst. Bei Dunkelheit setzten die Schiffe sich in Bewegung. Es war ein trauriger Anblick, unser schönes Kolberg in Flammen zu sehen, die den Himmel blutrot färbten. Die Fahrt kam uns langsam und vorsichtig vor. Das Boot schaukelte sehr, alle waren seekrank und froren, besonders ich, der ich oben an Deck auf das Gepäck aufpaßte. Am 9. März waren wir froh, in Swinemünde an Land gehen zu können. Dort kümmerte sich niemand um die Flüchtlinge. Jeder brachte sich, so gut es ging, wegen ständiger Luftangriffe in Sicherheit. Gegen Abend sind wir dann mit einem Zug bis Anklam gekommen. Unser Hunger trieb uns dazu, dort nach Eßbarem zu betteln. Am 10. März ging es schließlich im Viehwaggon nach Friedland in Mecklenburg, wo wir nachts ankamen und in einer mit Stroh ausgelegten Zuckerfabrik übernachteten, um dann weiter „westwärts“ zu fahren. „Steine können reden 1945“, Feder/Tusche: Mein Vater war nach Hause entlassen worden. Doch wo war zu Hause?
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