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Der Mythos Vertreibung für eine kollektive Unschuld

Der Mythos Vertreibung für eine kollektive Unschuld

Der Mythos Vertreibung für eine kollektive Unschuld

 

Der Mythos Vertreibung für eine kollektive Unschuld

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Handelt es sich bei der Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa um einen Mythos? Was ist überhaupt ein Mythos? Auf die Klärung dieser zweiten Frage wartete vergebens, wer vor zwei Wochen an einer von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg veranstalteten Fachtagung mit dem Thema „Mythos – Zur Tauglichkeit eines Erklärungsmusters“ teilnahm. Der Gegenstandsbereich war weitgespannt: von der Antike über die nationalsozialistische Architektur, die bildende Kunst, die Musik und den modernen Tanz bis zur neueren Geschichte. Unter allen Referenten zeigte allein der Hamburger Archäologe Lambert Schneider, der den Eröffnungsvortrag über „Mythos und Rationalität im alten Griechenland“ hielt, einige Aufmerksamkeit für die Problematik des Begriffs: Er erläuterte den Mythos als Gründungsgeschichte – wobei unter „Gründung“ nicht nur die Setzung des Anfangs einer Nation zu verstehen sei, sondern vor allem die Statuierung moralischer Normen, etwa des Inzestverbots. Die meisten anderen Referenten überließen es dem Publikum, sich selbst einen jeweils passenden Begriff vom Mythos zu bilden, was der Genauigkeit ihrer Ausführungen nicht immer zuträglich war. In besonderem Maß gilt dies für den abschließenden Vortrag des Oldenburger Neuhistorikers Hans-Henning Hahn mit der Überschrift „Mythos Vertreibung“. Er befaßte sich mit der Form des Diskurses über Vertreibung in Deutschland seit 1945 – der Art und Weise, wie über das Thema geredet wurde. Hahn wies auf Widersprüche und Vagheiten hin: Die Angaben zu der Zahl der Vertriebenen reichten von fünf Millionen bis über zwanzig Millionen, der Begriff der Vertreibung fasse unterschiedslos eine Reihe von real völlig verschiedenen Vorgängen zusammen: Vertriebener sei demnach jeder Deutsche, der seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute aus dem Osten in die Bundesrepublik gekommen sei. Man habe es hier mit einer gezielten begrifflichen Unschärfe zu tun, die keine konkrete Zuordnung zu einem historischen Geschehen zulasse, sondern dem Zweck der Konstruktion eines Mythos diene. Dem Zuhörer war es auch an dieser Stelle nicht möglich, Klarheit über den von Hahn zugrunde gelegten Begriff zu gewinnen. Eindeutig war nur: Hier gab es etwas zu destruieren, ein Lügengespinst zu zerstören. Zweifel an der Glaubhaftigkeit von Vergewaltigungsberichten Nachdem dieses Bewußtsein beim Publikum sichergestellt war, brachte Hahn Zitate aus dem Diskurs der vergangenen sechzig Jahre: „schwere Verletzung des Völkerrechts“, „vorwiegend Unschuldige“ seien getroffen worden; „furchtbares Unrecht durch furchtbares Unrecht beantwortet“ worden (Johannes Rau), die Potsdamer Beschlüsse seien „völkerrechtswidrig“ gewesen, das „Recht auf Heimat“ sei verletzt worden. Alle diese Behauptungen, so insinuierte Hahn, gilt es als Lügen zu entlarven. Ihre Funktion habe einzig darin gelegen, der Konstruktion einer kollektiven Unschuld zu dienen. Hierfür habe man sich insbesondere auch eines Bildes bedient: des Bildes der Frauen und Kinder, die „angeblich“ die Hauptopfer der Vertreibung gewesen seien. Das niedrige Niveau seiner Ausführung unterschritt Hahn jedoch noch, als er Betrachtungen über die damals übliche Bekleidung deutscher Frauen mit Überlegungen zur Glaubhaftigkeit von Vergewaltigungsberichten verband. Auffällig sei doch, so Hahn, daß solche Berichte erst spät im Diskurs aufgetaucht seien. Auf den Gedanken, daß eigene Scham und Mangel an Empathie bei den Mitmenschen die Frauen am Sprechen gehindert haben könnten, kam Hahn nicht. Das Erschreckende an dieser Veranstaltung war nicht so sehr, daß Dozenten wie Hahn an deutschen Universitäten neuere Geschichte lehren. Einzelne Zyniker dieser Art kann die wissenschaftliche Gemeinschaft bestimmt verkraften. Bestürzend ist vielmehr das Ausmaß an Diskursherrschaft, das von den Vertretern ihrer politischen Richtung nach wie vor ausgeübt wird. Im Publikum saßen eine Reihe von Menschen, die die Vertreibung noch selbst miterlitten hatten. Einige von ihnen hatten während des Vortrags Mühe, ihrer Empörung Herr zu werden, und sie brachten sie auch in der anschließenden Diskussion deutlich zum Ausdruck. Unverkennbar war jedoch selbst bei ihnen die Tendenz, die Zuständigkeit für diese Empörung bei sich selbst zu suchen anstatt bei dem Referenten.

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