Herr Dr. Scheil, Sie haben an den Universitäten Mannheim und Karlsruhe studiert, an letzterer 1997 auch promoviert – allerdings mit dem Schwerpunkt Antisemitismus in Deutschland des 19. Jahrhunderts. Heute sind Sie vielmehr durch Ihre Publikationen im Themenbereich der Außenpolitik der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt. Wie kam es zu dieser Verlagerung Ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Scheil: Ich hatte mich in der Vorbereitung zu meinem Rigorosum intensiv mit der Politik dieser Zeit auseinandergesetzt, insbesondere auf der Basis der von Ludwig Dehio entwickelten machtpolitischen Analyse „Gleichgewicht oder Hegemonie“ aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gleichwohl war diese Ära auch bereits während meines Studiums ein Interessenschwerpunkt. Haben Sie bereits zu dieser Zeit das Konzept Ihrer ersten Publikation „Logik der Mächte“ (Duncker & Humblot, Berlin 1999) entwickelt? Scheil: Tatsächlich habe ich – während ich meine Dissertation schrieb – parallel an diesem Werk gearbeitet. Nun ist in diesem Herbst der dritte Band dieser außenpolitischen Betrachtungen erschienen („1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs“, Olzog Verlag, München 2005). Wie in den beiden Büchern zuvor bleiben Sie auch in diesem Buch der Grundthese treu, daß die Politik des Deutschen Reiches nicht mit einem „Hecht im Karpfenteich“, sondern eher als „Hecht unter Hechten“ vergleichbar ist. Wie kommen Sie zu diesem Schluß? Scheil: Es ist ganz eindeutig so, daß nicht vom Deutschen Reich als „Hecht im Karpfenteich“ gesprochen werden kann. Die großen europäischen Staaten haben damals sämtlich Machtpolitik betrieben, innerhalb wie außerhalb Europas. Den eigenen Vorteil haben sie dabei nicht selten in der Schwächung oder gar dem Untergang des eigenen Nachbarn gesucht. Dabei ist in der Zwischenkriegszeit eine Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens entstanden, welches auch Krieg zur Sicherung des eigenen Vorteils nicht mehr ausschloß. Man griff nach dem Scheitern des Versuchs einer Gesamtreform des Versailler Systems auf dem Verhandlungsweg zu einseitigen Änderungen wie dem deutsch-englischen Flottenabkommen, dem französisch-sowjetischen Pakt (beide 1935) oder zu willkürlichen Abschlüssen wie dem Münchener Abkommen 1938. Schließlich orientierte man sich nicht mehr an Prinzipien des staatlichen Ausgleichs, was direkt in die Katastrophe führen mußte oder sie sehr wahrscheinlich machte. Wo sehen Sie die Kardinalschuld der deutschen Außenpolitik an dieser Situation. Vielfach wird davon gesprochen, daß spätestens die Besetzung der „Rest-Tschechei“ im Frühjahr 1939 alle diplomatischen Wege in der Folge verstellte. Teilen Sie diese Haltung, oder verorten Sie die politische Ausweglosigkeit bereits früher? Scheil: Ich bin immer mißtrauisch gegenüber dem Schuldbegriff, da er wenig erklärt. Individuelle Verantwortung der politischen Führungen ist immer nur ein Element unter anderen. Kein Staat – auch nicht Deutschland – ist am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs allein schuld gewesen. Vielmehr haben sich durch die gespannter werdende Atmosphäre die Vorstellungen in den einzelnen Ländern immer weiter radikalisiert. Die deutsche Politik der Zwischenkriegszeit hat sich durchgängig und kontinuierlich an der Revision der Verhältnisse nach den Pariser Vorortverträgen von 1919 orientiert. Begünstigt wurde die dreister werdende Art der Politik sicherlich durch die Appeasementpolitik der westeuropäischen Mächte bis 1938, die aber ihrerseits vorwiegend der Ausdruck einer konzeptionellen Schwäche der Politik der Versailler Siegermächte war. Sie konnten das Versailler System nicht mehr bewahren, hatten aber keine Vision, wie es umgebaut werden sollte. Kontinuität der deutschen Außenpolitik? Das hieße, daß es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu keiner außenpolitischen Zäsur gekommen ist. Scheil: Tatsächlich ist es durch die wirtschaftliche Stabilisierung nach 1933 zu der Situation gekommen, daß man „mit einem größeren Löffel“ essen konnte – erst recht nach den erfolgreich und widerspruchslos durchgeführten Schritten der Wiederaufrüstung. Die Gleichberechtigung als europäische Großmacht war jedoch stets das Ziel der konservativen Eliten innerhalb des Auswärtigen Amtes geblieben. Dabei darf man voraussetzen, daß ein Krieg in diesen Kreisen immer verhindert werden sollte, und bis 1939 schien das Kalkül tatsächlich aufzugehen. Die Motive blieben allerdings die gleichen wie in den zwanziger Jahren, nur die Methoden radikalisierten sich zunehmend. Das hieße, daß die Nationalsozialisten bis 1939 den außenpolitischen Weg, der seit 1919 Konsens eines weiten politischen Spektrums gewesen ist, nur erfolgreich weitergingen. Damit würde sich auch die nach 1933 wachsende Zustimmung über die direkten Parteianhänger hinaus in Deutschland erklären. Scheil: Auf jeden Fall. Selbst nach dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 hatte die SPD-Fraktion in einer großen Reichstagssitzung einer außenpolitischen Erklärung Hitlers zugestimmt, mit der dieser erste Schritte eingeleitet hat, die zum Austritt aus dem Völkerbund führten. Der Konsens war – mit Ausnahme der Kommunisten – innerhalb des Parteienspektrums übergreifend. In Ihrem Schlüsselwerk der vorliegenden außenpolitischen Trilogie „Fünf plus Zwei“ (Duncker & Humblot, Berlin 2003) beziehen Sie, wie der Buchtitel bereits andeutet, die „Flügelmächte“ USA und UdSSR ausdrücklich in die europäische Mächtekonstellation vor dem Krieg mit ein. Warum ordnen Sie diesen Mächten, die sich in den Jahren zuvor weitgehend aus allen europäischen Belangen heraushielten, bei der Eskalation der Verhältnisse vor 1939 eine derart wichtige Rolle zu? Scheil: Das Interesse an der europäischen Politik dieser Mächte setzte bereits Mitte der dreißiger Jahre ein – besonders massiv dann zur Jahreswende 1938/39. Zu diesem Zeitpunkt gingen sowohl die USA als auch die Sowjetunion dazu über, ihre Vorstellung ganz offensiv zu verfolgen. So hat US-Präsident Roosevelt zu diesem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, daß er die Interessengrenze der USA am Rhein sieht und geneigt ist, den europäischen Status quo zu garantieren. Die KPdSU hat auf ihrem Parteitag im Frühjahr 1939 die Vermehrung der Zahl der Sowjetrepubliken gefordert. Hat diese Neuorientierung mit der wirtschaftlichen Stabilisierung innerhalb der USA und der Machtsicherung Stalins durch seine terroristische „Säuberungspolitik“ zu tun, oder war diese früher angelegt? Scheil: Ich denke, diese Ausrichtung ist früher festzustellen. Bei beiden Staaten ist dieses durch die viel früher einsetzende Aufrüstung festzustellen – die USA insbesondere in der Marine, die Sowjetunion bei den operativen Landstreitkräften. Zudem waren beide politischen Systeme auf Expansion ausgerichtet, die USA auf den unteilbaren Weltmarkt und die Sowjetunion mit der Vision der Weltrevolution. In den achtziger Jahren wurde dieser These folgend die historische Periodisierung vorgenommen. Danach begann das neue Zeitalter mit 1917, dem Jahr des US-Kriegeintritts und der Oktoberrevolution. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden die Stimmen lauter, die mit dem Beginn des „Dreißigjährigen Krieges“ 1914 die Zäsur setzten. Welches Jahr war für die heutige Konstellation bedeutender? Scheil: In der europäischen Dimension hat natürlich 1914 die bis heute größten Wirkungen. Trotzdem muß man feststellen, daß sich zu dieser Zeit erstmals außereuropäische Mächte etablierten, die maßgeblich die Geschicke auf dem Alten Kontinent mitbestimmten. Den Begriff des „Zweiten Dreißigjährigen Krieges“ hat Winston Churchill populär gemacht. Er gibt die Binnensicht eines Teils der englischen Elite wieder, der in der bloßen Existenz des Bismarck-Reichs ein Problem fand und sich 1945 am Ziel sah. Diese Perspektive ist wegen der Fixierung ihrer Anhänger auf Deutschland ungeheuer geschichtsmächtig geworden, aber sie greift zu kurz. Ebenso wie Ihre Analyse über die Triebkräfte im Zweiten Weltkrieg von der Mehrheit der deutschen Historiker nicht geteilt werden dürfte, so haben Sie auch in einer anderen Frage nicht mit den Wölfe geheult. Die Ausstellung des Hamburger Institutes für Sozialforschung über die „Verbrechen der Wehrmacht“ hat von Anfang an Ihren Widerspruch hervorgerufen. Selbst die nach ausländischer Intervention überarbeitete Form haben Sie kritisch mit einem publizistischen Kommentar versehen („Legenden, Gerüchte, Fehlurteile“, Leopold Stocker Verlag, Graz 2003). Die Arbeit dürfte Sie ebenfalls vielleicht bekannter, aber nicht beliebter gemacht haben? Scheil: Ja, natürlich, beliebter habe ich mich damit nicht gemacht. Sowohl der Ansatz als auch die Details der Ausstellung, die Wehrmachtsgeschichte als Verbrechensgeschichte darzustellen, war äußerst kritikwürdig. Leider war die Diskussion bereits um die erste Ausstellung derart politisiert, daß sich niemand aus der deutschen Historikerschar recht getraut hat, dagegen etwas zu sagen. Die Political Correctness hat also jeglichen Widerspruch unterdrückt? Scheil: In der Tat. Mir haben mehrere Kollegen unter vier Augen gesagt, daß ich mit meinem Kommentar gegen die Wehrmachtsausstellung doch recht hätte. Nichtsdestotrotz hätte ich mir mit der Publikation keinen Gefallen getan. Mir hat die Begebenheit jedenfalls deutlich gemacht, wie eine derart auf realsozialistischen Thesen fußende Arbeit der Aussteller den Diskurs beherrscht und in welchem bedauernswerten Zustand sich das gesamtgesellschaftliche Diskussionsklima in Deutschland befindet. Der Widerstand gegen diese Meinungsführerschaft hat Sie dann auch umgehend Angriffen ausgesetzt. Besonders deutlich wurde das in der linken Zeitschrift „konkret“, in der Sie vor einigen Monaten als „Stichwortgeber der extremen Rechten“ bezeichnet wurden. Wie gehen Sie mit diesen Angriffen um? Scheil: Die Angriffe und Kampagnen kommen und gehen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine wissenschaftliche Zeitschrift bei mir einen Aufsatz bestellt. Daraufhin wurde die Redaktion mit Briefen bombardiert, mich doch nicht in dem Blatt zu Wort kommen zu lassen. Das endete damit, daß man den Aufsatz tatsächlich wieder abbestellte. Anders als viele Fachkollegen, die an der Universität lehrend tätig sind oder an wissenschaftlichen Instituten arbeiten, sind Sie als freier Historiker weitgehend unabhängig. Beeinflußt dieser Umstand Ihre Arbeit auch negativ? Scheil: Eher nicht. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit ist das höhere Gut. Die Infrastruktur der Universitäten und Archive steht mir offen. Im Gegenteil kann ich mich bei freier Einteilung ohne zeitraubenden Lehrauftrag viel intensiver der Forschung widmen. Durch Ihre von der Linie abweichende historische Forschung sind Sie mit ähnlicher Stigmatisierung vertraut geworden, wie sie die „JUNGE FREIHEIT“ auch gewohnt ist. War diese Tatsache entscheidend dafür, daß Sie als Autor bei uns aufgetreten sind? Scheil: Ich lese die JF bereits seit mehreren Jahren. Natürlich hatten die Kampagnen gegen die Zeitung mich auch bestärkt, mich näher mit dem Blatt zu beschäftigen. Ein Beispiel war eine große Kampagne gegen den Mannheimer Universitätskiosk, der die JF nach massiven Protesten nicht mehr zu führen wagte. Das hatte mich bewogen, die Zeitung regelmäßig zu lesen und dann festzustellen, daß sie durchaus Qualität hat, so daß ich seit 2001 auch als Autor bei Ihnen schreibe. Hat Sie die Nominierung für den Gerhard-Löwenthal-Preis als eher sporadischer Autor als Nachfolger des publizistisch häufiger in Erscheinung tretenden Thorsten Hinz überrascht? Scheil: Allerdings. Das soll aber nicht andeuten, daß ich mich nicht freue oder der Meinung bin, ihn nicht verdient zu haben. Dr. Stefan Scheil ist Historiker und seit 2001 regelmäßiger Autor in der „JUNGEN FREIHEIT“. Am 27. November wird er mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet. weitere Interview-Partner der JF